20. Juli 2016

Hungerprotest

Von nst1

Offener Brief an Nicolás Maduro, Staatspräsident von Venezuela

Sehr geehrter Herr Maduro,

die Nachrichten aus Ihrem Land sind besorgniserregend, die Bilder erschütternd: Menschen stehen stundenlang an, weil Läden kaum noch Nahrungsmittel haben. Ein Viertel der Kinder hat die Schule wegen Unterernährung abgebrochen. Leute wühlen im Müll nach Essbarem; der Hunger treibt sie zu Plünderungen. Nicht nur die Lebensmittelversorgung hakt: Mangel an Medikamenten und OP-Materialien führt dazu, dass Ärzte in überfüllten und veralteten Kliniken Patienten nicht behandeln können. Die schlimmste Dürre seit vierzig Jahren sorgt für Wassermangel, sodass die Wasserkraftwerke kaum Energie erzeugen können. Um Strom zu sparen, haben Sie dem Land fantasievolle Maßnahmen verordnet: eine Zwei-Tage-Woche für Beamte, ein Sechs-Stunden-Tag in den Ministerien, Sie haben freitags die Schulen geschlossen, neue Feiertage eingeführt und die Zeitzone geändert.

Venezuela ist eines der erdölreichsten Länder der Welt. So sehr hat es auf das schwarze Gold gesetzt, dass die Wirtschaft mit dem Ölpreisverfall völlig ins Taumeln geriet.

Aber das ist nicht der einzige Grund für den Notstand, der mittlerweile auch die Mittelschicht trifft: Die Opposition wirft Ihnen Verschwendung und Missmanagement vor; Korruption und unbezahlbare Sozialprogramme haben ihr Übriges getan.

Ihr Land hat zurzeit die weltweit höchste Inflationsrate. Mangels Devisen kann es keine Waren einführen. In dieser Situation ist es absolut unverständlich, dass Sie Hilfen aus dem Ausland ausschlagen und große Teile des Volkes lieber weiter hungern lassen. Ihre Strategie: Die Schuld auf andere schieben. Für die zunehmende Gewalt auf den Straßen machen Sie allein die Opposition verantwortlich, scheinen bei der Versorgung Ihre Anhänger zu bevorzugen. Damit treiben Sie einen Keil in die Gesellschaft, gießen Öl ins Feuer. Anstatt zum Wohl Ihrer Bürger konstruktiv mit allen Seiten zusammenzuarbeiten, verweigern Sie sich dem bitter nötigen Dialog, schlagen das Vermittlungsangebot des ehemaligen spanischen Premierministers José Luis Zapatero, der Chavisten und Anti-Chavisten an einen Tisch holen will, in den Wind.

Sie haben Militär und Bürgerwehren mobilisiert, bringen sie gegen die Massenproteste in Stellung. Die Angst, dass Sie auf dem besten Weg sind, eine Diktatur zu installieren, nimmt zu. Der Widerstand wächst. Das Oppositionsbündnis „Tisch der demokratischen Einheit“, das bei den Parlamentswahlen im Dezember die Mehrheit errang, will Sie mit einem Referendum abwählen. Sie aber haben den Ausnahmezustand verhängt, regieren per Dekret darüber hinweg. Zusammen mit den Sozialisten, die seit 1999 an der Macht sind, versuchen Sie die Durchführung des Referendums zu verzögern. Denn käme es erst nach dem 10. Januar 2017 zur Abstimmung, bräuchte es keine Neuwahlen und der Vizepräsident könnte Ihre Amtsgeschäfte übernehmen. Das ist alles andere als demokratisch!
Venezuela steht vor dem Kollaps. Amnesty International warnt vor einer humanitären Krise. Wegen der Millionen von Waffen im Land ist ein Bürgerkrieg nicht fern. Lassen Sie es nicht so weit kommen! Es liegt in Ihrer Macht, gegenzusteuern!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr,
Redaktion NEUE STADT

Unser offener Brief wendet sich an Nicolás Maduro Moros, 53, seit 2013 Staatspräsident Venezuelas, nachdem sein Vorgänger Hugo Chávez nach schwerer Krankheit gestorben war. Der 1,90 m große Sozialist war zuvor von 2006 bis 2013 Außenminister und ab 2012 Vizepräsident des Landes. Venezuela im Norden Südamerikas hat 31 Millionen Einwohner auf einer Fläche von 912 000 km2.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2016)
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