12. November 2010

Zwischen Tier und mir

Von nst_xy

Wir leben auf Kosten der Tiere, sagt Rainer Hagencord vom Institut für Theologische Zoologie in Münster. Zwar habe sich der Mensch schon immer Tiere als Arbeitshelfer und zur Nahrung gehalten, nie jedoch sei er so rücksichtslos mit ihnen umgegangen wie heute. Wem die Bewahrung der Schöpfung am Herzen liegt, der müsste längst aufschreien!

Die meisten Staaten erkennen die Würde des Menschen an. Müssen wir auch die Würde des Tieres gesetzlich verankern?

Hagencord: Bis 1996 waren Tiere in Deutschland vor dem Gesetz „bewegliche Sachen”. Erst dann wurden sie aus dieser Kategorie herausgenommen. Dass sie seitdem in der deutschen Gesetzgebung schmerzempfindende Wesen sind, ist ein Riesenschritt, aber auch Etikettenschwindel. Denn trotzdem kann mit Tieren wie mit Sachen umgegangen werden. Sonst wäre das ganze Phänomen der Massentierhaltung rechtlich überhaupt nicht durchsetzbar. Mein Anliegen ist eine neue Wertschätzung der Tiere. Da ist noch viel zu tun.

Wieso beschäftigen Sie sich als Theologe mit Tieren?

Hagencord: Biologische Erkenntnisse werden in der Theologie kaum wahrgenommen. Tiere werden verschwiegen. Für die Theologie ist der Mensch das einzig beseelte Wesen, einziger Dialogpartner Gottes. Als sei der Mensch vom Himmel gefallen. Dabei sind wir auch erst evolutionär geworden. Es braucht eine theologische Würdigung des Tieres, um neu und kompetenter von Mensch und Schöpfung reden zu können.

Ein zweiter Grund ist Empörung: Kirchliche Verlautbarungen über die Bewahrung der Schöpfung reden von Sonne, Mond und Sternen, vom Klima und den Meeren. Aber wo tauchen Puten, Hühner, Rinder und Schweine auf? Nirgends! Die werden nur als Rohstoffe der Fleisch- und Milchindustrie wahrgenommen.

Wie unsere Gesellschaft mit Tieren umgeht, ist nach jüdisch-christlicher Tradition nicht zu verantworten. Die Christen vergeben ihre Chance, prophetische Instanz in der Gesellschaft zu sein. Denn die Gier auf immer mehr Fleisch für immer weniger Geld führt letztlich zur Verelendung der Dritten Welt und zur Klimakatastrophe. Würden die Christen ihre Haltung und ihr Konsumverhalten ändern, wäre das auch politisch ein gewaltiger Sprung.

Diese Distanz zum Tier gab es nicht immer. Wodurch ist es zum Bruch gekommen?

Hagencord: Die Industrialisierung der Landwirtschaft hat eine Entfremdung vom Tier gebracht. Aber schon zuvor kam es im 16./17. Jahrhundert zum Bruch: Die Denker Descartes, Bacon und Leibniz haben die Würde des Menschen mit einer Abwertung des Tieres erkauft.

Für Descartes sind Tiere seelenlose Automaten. Nur der Mensch hat eine unsterbliche Seele. Aber es ist ein Denkfehler, den Menschen herauszunehmen aus der Natur und das biblisch zu begründen. Damit wird der Mensch absolutistischer Herrscher.

Was ist jetzt das Ziel Ihres Instituts?

Hagencord: Einmal will ich das Thema in die wissenschaftliche Debatte einbringen: den Theologiestudenten die biblische Lehre vom Menschen nahe bringen als eine, die dem Tier zugewandt ist. Das stößt auch bei Naturwissenschaftlern auf großes Interesse.

Zum anderen gehört das veränderte Verhältnis zur Natur viel stärker in Schule und Katechese. Ich möchte das Thema in der Lehrerfortbildung und in den Lehrbüchern platzieren. Dritter Schwerpunkt ist die Zusammenarbeit mit bestehenden Organisationen und Bildungshäusern.

Auf welchen biblischen Grundlagen baut diese Würde der Tiere auf?

Hagencord: Im ersten Schöpfungsbericht hat der Mensch nicht einmal einen eigenen Schöpfungstag! Den muss er sich mit den Tieren teilen. Der Mensch ist nicht Krone der Schöpfung, sondern die Schöpfung läuft auf den siebten Tag hinaus, an dem alles Geschaffene unter den liebenden Augen Gottes in Harmonie existieren kann.

Natürlich soll sich der Mensch die Erde untertan machen, über die Tiere herrschen; er ist Ebenbild Gottes. Aber Exegeten sagen: All das sind Eigenschaften eines Hirten, eines guten Königs, der sich den Tieren gegenüber verantwortlich verhält. Am Menschen soll die Welt erkennen, wie Gott ist. Wir sollen ihn als Liebhaber des Lebens vertreten.

Der zweite Schöpfungsbericht stellt den Garten Eden vor mit Adam, der einsam ist. Um ihm zu helfen, erschafft Gott nicht etwa Eva, sondern zunächst die Tiere. Aber warum soll Adam ihnen Namen geben? Kirchenlehrer Thomas von Aquin sagt: Er soll sich ein Erfahrungswissen über die Natur der Tiere aneignen, um sich selbst zu erkennen. Ich kann nur Mensch werden, wenn ich auch das Animalische in mir entdecke, wertschätze und damit umgehen lerne: Sexualität, Erotik, Aggression. Die Missbrauchsfälle haben gezeigt: Wo das Animalische im Menschen verdrängt wird, kommt es auf Umwegen in menschenverachtender Weise wieder zu Tage.

Dann geht der biblische Text mit der Erschaffung Evas aber einen Schritt weiter: Ein Tier kann nicht für den Menschen zum Du werden im Sinn einer ernsthaften partnerschaftlichen Beziehung. Ein Tier bleibt immer Tier.

Heißt das, wir müssen alle Vegetarier werden?

Hagencord: Vielleicht. Jedenfalls kann uns nicht egal sein, wie die Puten, Hühner, Schweine und Rinder, deren Fleisch wir essen, vorher gelebt haben. Und daran sollte unser Konsumverhalten Maß nehmen: Muss es jeden Tag Fleisch sein? Reicht nicht der eine Sonntagsbraten, der dann wirklich kostbar ist und auf den ich mich freue?

Vom Vegetarier-Bund stammt das Projekt „Veggie-Tag”: Eine ganze Stadt lebt einen Tag pro Woche fleischlos. Die Kantinen der Stadt und die Gastronomie machen mit. So in Gent und Bremen; Hamburg und Recklinghausen sind auf dem Weg. Warum nicht an die katholische Freitagstradition anknüpfen? Da können Kirchengemeinden die Würde des Tieres in ein angemessenes Konsumverhalten übersetzen.

Und: Kommt in unserer Religiosität die Natur überhaupt vor? Vielleicht als schöne Kulisse, die uns an Gott erinnert. Aber wir sollten die Tiere stärker als Möglichkeit der Gottesbegegnung einbringen in Spiritualität, kirchliche Traditionen, Exerzitien. Warum stellt Jesus uns denn die Vögel des Himmels als Vorbilder hin?

Was können wir von den Tieren lernen?

Hagencord: Thomas von Aquin spricht von einer Gott-Unmittelbarkeit der Tiere. Sie denken nicht über Gott nach. Ihr Verhältnis zu Gott besteht darin, dass sie unmittelbar von ihm „bewegt” werden. Tiere haben keine Schuld, sie haben auch nicht die Freiheit, die uns zum Menschen macht. Ihre Würde besteht in ihrer direkten Nähe zu Gott.

Haben Tiere eine Seele? Kommen sie in den Himmel?

Hagencord: Wohin denn sonst? Gibt es eine Müllhalde der Evolution, wo alle nicht vernunftbegabten Geschöpfe landen?

Die Bibel würde nie Geschöpf und Seele unterscheiden. Für die Bibel ist Seele eher ein poetischer Begriff, der das Geheimnisvolle, die Herkunft und Würde all dessen beschreibt, was lebt. Sie ist das, was Mensch und Tier verbindet. Die Sprache bestätigt das: Animal (Tier) und Anima (Seele) haben die gleiche Sprachwurzel.

Sollten sich die Kirchen mehr für den Tierschutz stark machen?

Hagencord: Ja klar! Beim Tierschutz denken allerdings viele nur an Tierheime und gestrandete Hunde, Katzen und Schildkröten. Mir geht es um die politische Brisanz: Was folgt daraus, dass Puten, Hühner, Rinder, Schweine auch Geschöpfe sind? Dürfen dann die Mastanlagen sein, gegen die die Bevölkerung Protest läuft, wo die Kirchen sich aber überwiegend raushalten? Das ist ein Minenfeld: Landwirte beschweren sich bei meinem Bischof, weil ich diese Art der Tierhaltung in Frage stelle.

Jeden Tag sterben zehn Tierarten aus! Die Zusammenhänge sind einfach: Womit werden Schweine in Massenhaltung gefüttert? Mit Soja. Woher kommt Soja überwiegend? Aus Brasilien. Was stand vorher anstelle der riesigen Sojafelder? Regenwald. Wenn man einen Dominostein herausnimmt und dieses Fleisch nicht mehr isst, kann der Regenwald vielleicht gerettet und der Artenschwund unterbrochen werden. Da wünsche ich mir von den Christen und von der Kirche eine viel stärkere Positionierung und mehr Aufklärungsarbeit.

Gibt es Beispiele, wo sich diese Sicht auf die Tiere schon durchsetzt?

Hagencord: AKUT, Aktion Kirche und Tiere, ist ein Netzwerk von Christen in Deutschland und der Schweiz, die sich auf den Weg gemacht haben. Ende August hat AKUT den „1. Kirchentag Mensch und Tier” in Dortmund veranstaltet.

Misereor, BDKJ und andere kirchliche Einrichtungen haben die Mensch-Tier-Beziehung stark auf dem Schirm und machen gute Arbeit. Dagegen reicht es vielen Gemeindemitgliedern, einmal im Jahr etwas zu spenden und gerecht gehandelten Kaffee zu kaufen. Aber ihr tägliches Konsumverhalten blenden sie völlig aus.

Vielen Dank für das Gespräch!

Clemens Behr

Rainer Hagencord

leitet das vor einem Jahr mit dem Schweizer Kapuziner Anton Rotzetter gegründete Institut für Theologische Zoologie in Münster. Hagencord (Jahrgang 1961) hat katholische Theologie, Biologie und Philosophie studiert. Er war Hochschulpfarrer und Mitarbeiter am Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie der Universität Münster. In mehreren Büchern entwickelt er eine neue theologische und ethische Sicht der Tiere: „Gott und die Tiere“ (Topos), „Diesseits von Eden“, „Wenn sich Tiere in der Theologie tummeln“(beide Pustet), „Noahs vergessene Gefährten“(Matthias-Grünewald-Verlag).

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2010)
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