17. November 2014

Zurück in den Alltag

Von nst1

Wohin, wenn die Haft abgesessen ist? In der Wohngemeinschaft Tabor können Strafentlassene zusammen mit Menschen ohne Strafvergangenheit in ein neues Leben finden.

Die Kapelle ist aus Stein. Ein Altar mit goldenem Deckchen steht in der Mitte des kleinen Raumes und an der Wand dahinter hängt ein großes Kreuz. Auf dem Boden liegt ein roter Teppich. Ein klassisches Kirchenfenster in Blau- und Grüntönen lässt Tageslicht herein. Kleine Bänke bieten Platz für die Bewohner des Hauses, um sich hier zum Beten zurückzuziehen. Beim heutigen Abendgebet sind das Ehepaar Trischler sowie Manfred dabei. Norbert Trischler spielt Gitarre, die anderen singen aus den Liederbüchern. Eine kurze Lesung, Psalmen, reihum gelesen, das gemeinsame Vaterunser: Hier spürt man die Gemeinschaft des Tabor e.V. ganz deutlich.

Unter dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ haben Ingrid Trischler und Rainer Hepler am 17. Juni 1993 den Verein gegründet. Für Ingrid Trischler ist es ihr Lebenswerk. Über ihren Vater, einen Polizisten, hat sie schon früh die Situation von Straftätern miterlebt. Manchmal haben sie nach der Entlassung bei ihnen zu Hause übernachtet.

Klar, dass das keine Dauerlösung sein konnte. Geprägt von der 1921 in Irland entstandenen katholischen Laienorganisation Legio Mariae, die sich stark um Randgruppen kümmert, reifte die Idee, ein Haus aufzubauen, das ein Zusammenleben mit Haftentlassenen ermöglicht.

Heute wohnt Ingrid Trischler mit ihrem Mann, als Pastoralreferent Gefängnisseelsorger in der Justizvollzugsanstalt München, in einem großen Haus in Moosach – zusammen mit 15 Menschen, die in ihrem Leben große Not erfahren haben: „Von sexuellem Missbrauch im Kleinkindalter in satanischen Kreisen über Vernachlässigung durch die Eltern und Heimkarrieren bis hin zu ‚Wohlstandsverwahrlosung‘ – Kinder, die in materiellem Reichtum, aber einem kalten Beziehungsumfeld aufgewachsen sind und ihr Heil in Drogen oder im Alkohol gesucht haben.“ Um ihre Abhängigkeit finanzieren zu können, sind einige auf den Strich gegangen, haben selbst gedealt, Raubüberfälle begangen oder sind wegen anderer Delikte verurteilt worden, erzählt Norbert Trischler. Das Zusammenleben in der Wohngemeinschaft soll ihnen helfen, in ein neues Leben zu finden, frei von Kriminalität und Gewalt. „Wir wollen Geborgenheit spenden und Nestwärme fühlen lassen, Gemeinschaft sein und Erfahrungen austauschen“, sagt Trischler. „Für uns ist das unsere Familie!“

Donnerstag ist Schnitzeltag! Abends um sieben Uhr versammeln sich die Bewohner im Wohn- und Esszimmer um einen großen Tisch aus Holz. Über der Durchreiche zur Küche hängt in bunten Holzlettern „Tabor Wohngemeinschaft“. Viele Pflanzen stehen in den Ecken und auf den Fensterbänken; in einem Aquarium tummeln sich Fische. Auch ein Klavier und eine Gitarre gibt es. In der Sofaecke liegt eine Bibel. Die Schnitzel werden aufgetischt, dazu Salat und Kartoffeln. Während des Essens fliegen Gesprächsfetzen hin und her: Fußball, Arbeitsverträge, geplante Ausflüge für den morgigen Feiertag. Vom Wohnzimmer gelangt man über die Terrasse direkt in den großen Garten hinter dem Haus, eingerahmt von Bäumen. Hier lesen die Bewohner Zeitung oder sitzen einfach und unterhalten sich.

„Du musst schon eine große Portion Idealismus mitbringen, verrückt sein … oder Du hast erkannt, dass jeder Mensch ein geliebtes Geschöpf Gottes ist und sei sein Leben noch so kompliziert“, schreibt der Tabor e.V. auf seiner Internetseite 1) unter der Rubrik „Was wir brauchen“.

Er sucht Leute, die für ein Jahr oder mehr mitleben möchten. Sie sollten mindestens 20 Jahre alt sein, psychisch stabil, konfliktfähig und offen. Das Konzept der Tabor-Wohngemeinschaft beruht nicht einfach darauf, Menschen mit einer Strafvergangenheit einen Ort zum Leben zu geben, sondern will sie auch auf die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereiten.

Stefan ist 44 Jahre alt und wohnt seit viereinhalb Jahren hier. Vor fünf Jahren wurde er aus dem Gefängnis entlassen, in dem er wegen Betrugs saß. Es folgte ein halbes Jahr Therapie und anschließend die Aufnahme in der WG. Bereits hinter Gittern hatte er Norbert Trischler kennengelernt und über ihn von der Wohngemeinschaft erfahren. Das Konzept gefiel ihm: „Wichtig für mich ist vor allem das persönliche Umfeld, weil ich im Knast alle familiären Bindungen verloren habe.“ Während Stefan von seiner Vergangenheit redet, schnurrt ihm eine Hauskatze um die Beine.

Die Tabor-Wohngemeinschaft liegt auf einem kleinen Hügel. Um dorthin zu gelangen, fährt man eine schmale, gewundene Straße hoch, an deren Ende die Kirche Maria Altenburg liegt. In ihrer Nachbarschaft stehen drei Häuser. Das mit dem schwarzen Dach gehört dem Tabor-Verein. Die Kapelle und die Zimmer der Bewohner befinden sich in der ersten Etage. Sie sind eher schlicht: Bett, Schrank, Tisch, Stuhl, Kommode, ein kleiner Balkon. Hier hat jeder seine Rückzugsmöglichkeit. Die Bewohner gehen ihrer Arbeit und ihren Hobbys nach, schauen zusammen Fernsehen oder unterhalten sich, kochen im Wechsel: der normale Alltag. Für Besucher sind zwei Gästezimmer vorhanden.

„Ich bin dankbar, dass ich hier bin“, sagt Manfred. Der 62-Jährige arbeitet halbtags in einer Gärtnerei. Sobald er frei hat, geht er seinem Lieblingshobby nach: der Malerei. In einem Kellerraum hat er sich ein kleines Atelier eingerichtet. Manfred lebt seit zwei Jahren in der Wohngemeinschaft. Damals hatte er von einem Arbeitskollegen vom Tabor e.V. erfahren, sich umgeschaut, beworben und wurde schließlich aufgenommen. Manfred war nicht inhaftiert, aber sein Leben lief alles andere als rund. Jetzt hat er einen Ort gefunden, an dem er sich wohlfühlt. Natürlich gebe es auch Schwierigkeiten zwischen den Bewohnern, wenn zum Beispiel jemand auf Konflikte emotionaler reagiere als ein anderer.

Auf dem Berg Tabor soll den Evangelien zufolge Jesus „verklärt“ worden sein: Jesus besteigt mit seinen Freunden Petrus, Jakobus und Johannes einen Berg. Dort verwandelt er sich und strahlt ein helles Licht aus; dann ertönt die Stimme Gottes: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören.“ 2)

Die Bibelstelle ist Sinnbild für den e.V.: „Ein Tabor-Erlebnis ist abgehoben vom Alltag“, erklärt Ingrid Trischler. Dabei erlebe man Gemeinschaft, Kraft, Liebe, Gottes Gegenwart. Nach solchen „Highlight-Erlebnissen“ geht es zurück in den Alltag, runter vom Berg, aber mit neuer Kraft. Der Tabor e.V. will „das Tabor-Erleben in den Alltag übernehmen und eine Gemeinschaft bilden für Menschen, die wieder neu beginnen wollen, nach der Haft oder aus anderen Notlagen heraus.“

Ein wichtiger Gedanke des Tabor e.V.: Mauern in der Gesellschaft überwinden und stattdessen Brücken aufbauen – Mauern der Vorurteile, der Angst, der Ablehnung. Deswegen gilt die Aufmerksamkeit des Vereins ehemaligen Strafgefangenen, die zurück in die Gesellschaft und ihr Leben erneuern wollen, ohne Alkohol, Drogen und Kriminalität. Der Verein unterstützt die Bewohner bei der Arbeitssuche, bei Ämtergängen und der Regulierung ihrer Schulden. Er leitet aber auch Gefängnisgruppen und arbeitet dabei eng mit der Emmausbewegung 3) zusammen, gestaltet Gottesdienste – auch in Haftanstalten – und gibt das Tabor-Magazin heraus. Um die ehemaligen Strafgefangenen in ein normales Leben zu integrieren, werden Feste gefeiert, Ausflüge gemacht, Freunde der Bewegung eingeladen.

Ihre Beziehung zu Gott ist für das Ehepaar Trischler und den mit im Haus wohnenden Ruhestandspriester Lebensmitte und Kraftquelle. Sie feiern täglich in der Kapelle die Eucharistie und beten abends; für die Bewohner sind das freiwillige Angebote. Die Zeit in Haft hat einige von ihnen nachdenklich gemacht, hat Fragen nach dem Warum, dem Woher und Wohin hochgespült. „Manch einer findet zu Gott“, berichtet Norbert Trischler. „Mancher entdeckt einen Sinn für sein Leben, der vorher entstellt oder von Drogen oder Verwundungen völlig überdeckt war. Manchmal bricht Heilung auf, ändert jemand sein Leben.“

Wenn ein Bewohner neu in die Tabor-Gemeinschaft kommt, kann es Anfangsschwierigkeiten geben wie in jeder WG. Aber sind sie überwunden, würde man sich hier richtig wohlfühlen, erklärt Stefan. Auch wenn er mit manchen Bewohnern mehr, mit anderen weniger auskommt. Für Stefan ist wichtig: „Man kann hinfallen, aber man muss auch wieder aufstehen.“ Und das hat er mithilfe der Wohngemeinschaft geschafft. Man dürfe nicht aufgeben, egal wie schwierig das Leben ist. In Zukunft möchten Ehepaar Trischler und der gesamte Verein die Gemeinschaft vergrößern. Neben dem Haus in Altenburg sollen weitere Häuser gepachtet werden, damit sie noch mehr Leute, „Betroffene“ wie „Nichtbetroffene“, aufnehmen können.
Lea Ochßner

1)  tabor-ev.de
2)  Matthäus 17,5
3)  www.emmausbewegung.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2014)
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