17. November 2014

Vergeben: befreiend und heilsam

Von nst1

Verletzungen in zwischenmenschlichen Beziehungen sind kaum zu vermeiden. Manchmal gehen sie so tief, dass Menschen krank werden und jahrelang darunter leiden. In Psychotherapie und Seelsorge weiß man um die lösende, befreiende und heilende Kraft von Vergebung und Versöhnung. Konrad Stauss, Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut, beschreibt wesentliche Elemente einer Versöhnungsarbeit, die auch im Alltag hilfreich sein können.

Herr Stauss, welche Rolle spielen in Ihrer Erfahrung als Psychotherapeut Vergebung und Versöhnung?
STAUSS: Eine zentrale! Als Psychotherapeut gehe ich davon aus, dass seelische Störungen ihre Ursache im Wesentlichen in biografisch erworbenen Bindungs- und Beziehungsverletzungen haben. Und Menschen, die häufige und sich wiederholende derartige Verletzungen erlitten haben, können diese verinnerlichen und diese alten Verletzungen in ihren jetzigen Beziehungen unbewusst wiederholen. Damit wird das damalige Opfer zum jetzigen unbewussten Täter neuer Verletzungen. Dieser Täter-Opfer-Täter-Reigen kann sich unendlich fortsetzen. Eine Möglichkeit, diese unheilvolle Dynamik zu unterbrechen, kann Vergebung sein. Allerdings hat Vergebung leider noch keinen Eingang in den Kanon der Therapieausbildung gefunden.

Woran liegt das, wenn sie doch so wichtig wäre?
STAUSS: Das hängt damit zusammen, dass Vergebung und Versöhnung einen spirituellen Ursprung haben und dass die wissenschaftliche Psychotherapie noch eine gewisse Scheu hat, ihr Menschenbild um die spirituelle Komponente zu erweitern.
In der Seelsorge hingegen weiß man, dass bei der Aufarbeitung von erlittenen Beziehungsverletzungen und schwieriger Vergangenheit Vergebung unverzichtbar ist. Allerdings hat die Pastoralpsychologie noch keine Methodik entwickelt, wie Vergebungsprozesse gestaltet werden können.

Wäre nicht die Beichte ein klassisches Beispiel von Vergebung?
STAUSS: Ja, aus Sicht dessen, der schuldig geworden ist. Er bekennt seine Schuld, zeigt Reue und die Bereitschaft zur Wiedergutmachung. Aus Sicht des Opfers geht es hingegen um die Frage: Wie kann es sich von dem seelischen Schaden, den ihm der Täter mit seinem Handeln zugefügt hat, befreien? Denn wenn die Folgen einer Verletzung vom Opfer nicht bearbeitet werden, ist es aus psychologischer Sicht sehr wahrscheinlich, dass die Tat verinnerlicht und wiederholt wird.

Kann man Vergebung dann in bestimmten Schritten erreichen?
STAUSS:  Ganz wichtig ist: Der Prozess der Vergebung ist nicht instrumentalisierbar. „Vergeben können oder wollen“ ist „Vergeben dürfen“ zum geschenkten Zeitpunkt. Deshalb kann man Vergebung nicht verordnen. Man kann jedoch psychologische und spirituelle Voraussetzungen zum Gelingen des Vergebungsprozesses benennen.
Zu den psychologischen gehört: Vergebung geht mitten durch die erlittene seelische Verletzung hindurch und nicht an ihr vorbei. Die durch die Verletzung hervorgerufenen Gefühle wie Schmerz, Traurigkeit, Wut und Groll sind eine normale emotionale Reaktion. Diese Gefühle sollten benannt und emotional ausgedrückt werden.
Dann sollte man sich durch einen empathischen Perspektivenwechsel probehalber mit der Sicht des Täters identifizieren können, um seine Motive für die Tat nachvollziehen und  verstehen zu können. Das rechtfertigt oder entschuldigt die Tat nicht. Dafür trägt der Täter die volle Verantwortung. Und trotz Empathie bleibt Unrecht Unrecht. Aber wer versteht, vergibt leichter.
Weiter gilt: Vergebung ist ein innerseelisches Geschehen. Vergeben kann man immer und sich so von einer Last in Form von Bitterkeit, Schmerz, Wut und Groll befreien. Diese emotionale Last der Nichtvergebung vergiftet die Herzen der Menschen oft über Jahre und Jahrzehnte.
Und zuletzt: Vergebung als innerseelisches Geschehen ist unabhängig vom Verhalten des Täters. Man kann Menschen vergeben, die nicht mehr am Leben sind und Menschen, die zu einer Einsicht in ihre Schuld nicht fähig sind. Zur Versöhnung hingegen gehören zwei: einer, der Vergebung anbietet, und einer, der sie annimmt.

Was bedeutet das konkret in einer Therapie?
STAUSS: Im Vergebungsprozess wird das psychologisch-psychotherapeutische Vorgehen vom spirituellen Vollzug der Vergebung unterschieden.
Im profanen psychologischen Raum wird dabei das Vergebungsthema bestimmt (Wem will ich vergeben? Was wurde mir angetan?) und die emotionale Selbsterforschung angeregt (Was hat mich am meisten emotional getroffen?). Die Gefühle werden in einem weiteren Schritt als „Anklage an den Täter“ vorgetragen und ausgedrückt. Dazu stellt man sich den Täter auf einem leeren Stuhl vor. Die Anklage ist in der Regel eine Mischung aus Wut und Schmerz. Der Seelsorger/Therapeut hilft dem Klienten, diese beiden Gefühle zu differenzieren.
Danach nimmt man einen imaginären Dialog mit dem Täter auf. Durch einen Tausch der Stühle identifiziert sich der Klient mit dem Täter und gibt eine Antwort auf die Anklage. Häufiger Wechsel der Stühle fördert einen Perspektivenwechsel. Im Verlauf des Dialogs verändert sich oft das Bild des Täters beim Opfer. Er wird weniger übermächtig, sondern als Mensch mit eigenen Begrenzungen, Schwächen und lebensgeschichtlichen Verwundungen und deren Auswirkungen erlebbar.
Dieser Dialog wird beendet, indem man dem Täter die volle Verantwortung für seine Tat zurückgibt. Das ist deswegen wichtig, weil sich zwischen Täter und Opfer oft folgende Dynamik abspielt: Je weniger der Täter bereit ist, die Verantwortung für seine Tat zu übernehmen, umso mehr entwickelt das Opfer Schuldgefühle und glaubt, für die Tat mitverantwortlich zu sein. Die eindeutige Rückgabe der Verantwortung an den Täter hilft dem Klienten, sich vom Täter und seiner Tat abzugrenzen.

Aber abgeschlossen ist der Vergebungsprozess damit noch nicht.
STAUSS: Nein. Das ist nur die Vorbereitung für den Schritt in den sogenannten „heiligen Raum“. Hier tritt neben der Ich- und Du-Beziehung noch die Beziehung zu einem transzendentalen Wesen, zu Gott, hinzu. Für das Gelingen ist es ganz wichtig, das individuelle Gottesbild des Klienten im Vorfeld zu klären und zu berücksichtigen.
Insgesamt kann man sagen, dass die Dynamik dann durch drei Größen bestimmt wird: gütige Barmherzigkeit, bedingungslose Annahme und Liebe und Vergebung. Der Vergebende versucht dabei, eine neue, für ihn oft ungewohnte Perspektive auf den Täter und seine Tat einzunehmen. Er schaut darauf in einer „Schau des Herzens“: So wie er sich wünschen würde, dass Gott auf ihn schaut, wenn er Schuld auf sich geladen hätte. In dieser Haltung schreibt er fünf fiktive Briefe und ein Vergebungszertifikat. Dabei sollen die Motive des Täters, die Konsequenzen der Tat für den Täter, seine Schuld gegenüber dem Opfer, seine Reue und die Bitte um Vergebung benannt werden. In einem abschließenden Vergebungszertifikat macht der Klient seine Bereitschaft zur Vergebung deutlich.
Im „Vergebungsritual“ bringt der Vergebende seine Bereitschaft zur Vergebung vor das „Angesicht Gottes“. Er wird dabei vom Seelsorger oder Psychotherapeuten begleitet und liest an sieben Stationen im „heiligen Raum“ die Briefe und das Vergebungszertifikat vor. Zum Abschluss wird der Klient noch gefragt, ob er bereit ist, die Vergebung aufrechtzuerhalten. Denn vergeben ist nicht vergessen. Die alten Wunden können auch zukünftig wieder aufbrechen. Mit dem Entschluss, Vergebung aufrechtzuerhalten, ist gemeint, dass man dann nicht wieder in die alten Emotionen wie Groll und Hass „einsteigt“, sondern sich erinnert, wie man sich nach dem Vergebungsritual gefühlt hat. So können alte schmerzliche Erfahrungen mit der neuen Erfahrung überschrieben werden.

Wie reagieren Klienten auf diese Vergebungsarbeit?
STAUSS: Die Ergebnisse sind ermutigend. Viele erleben es als eine große Befreiung, wie einen neuen gereinigten Blick, eine innere Heilung. Wichtig ist, dass die Klienten vorher über die einzelnen Schritte des Vergebungsprozesses aufgeklärt werden und dass das individuelle Gottesbild im Vergebungsprozess berücksichtigt wird.

Gibt es Gefahren oder Probleme?
STAUSS: Ja, etwa wenn man versucht, den Vergebungsprozess seiner spirituellen Dimension zu entkleiden und ihn als psychologische Bewältigungsstrategie zu instrumentalisieren. Oder wenn er zu Abwehrzwecken missbraucht wird; eine vorschnelle Vergebung soll dann dazu dienen, aktuelle Konflikte nicht anzusprechen und zu lösen oder eine quälende Beziehung besser zu ertragen. Eine Gefahr ist auch die sogenannte Teilvergebung: Wenn Vergebung an Bedingungen gekoppelt ist: „Ich vergebe dir nur, wenn …“ Vergebung ist aber ein Akt der Gnade und wie die Liebe nicht verrechenbar. Und weil der beschriebene Vergebungsprozess emotionszentriert ist und mitten durch die emotionale Wunde hindurchgeht, kann er nicht eingesetzt werden, wenn die Gefahr besteht, dass Klienten von ihren Emotionen überschwemmt werden, weil sie diese nicht regulieren können.
Wenn man das berücksichtigt, hat man viele positive Rückmeldungen.

Vielen Dank für das Gespräch!
Gabi Ballweg

Konrad Stauss
1943, Bad Grönenbach, ist Arzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Neurologie. Er leitete 21 Jahre die Klinik für psychosomatische Medizin Bad Grönenbach. Er hat sich intensiv mit den Themen Vergebungs- und Schuldkompetenz auseinandergesetzt. Sie sind Voraussetzung zur Versöhnung, bei der Opfer und Täter in einen Dialog treten, um miteinander Frieden zu schließen.
www.dr-stauss.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2014)
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