27. März 2017

Erschütterte Sicherheiten

Von nst5

Was unterscheidet Radikalität und Fanatismus? Was radikalisiert Menschen? Woran erkennen wir, dass jemand extremistisch wird? Und: Lässt sich das verhindern? Fragen an den Sozialpsychologen Ernst-Dieter Lantermann.

Radikal zu leben ist an sich nichts Schlechtes. Was unterscheidet prinzipientreue Entschiedenheit von schädlichem Fanatismus?
Wenn sich jemand radikal zu einer Idee bekennt und danach lebt, ist das völlig in Ordnung, solange er Andersartigkeit akzeptiert. Es hört da auf, wo er sich als wertvollerer Mensch fühlt und andere abwertet. Ob er radikal seinen Glauben, den Einsatz für nachhaltige Entwicklung oder Veganismus vertritt: Gegenüber Andersdenkenden sollte er bereit sein, ihre Perspektive zu verstehen.
Mit radikal lebenden Menschen kann man in der Regel reden. Sie haben in einem Bereich ihres Lebens eine klare, entschiedene Haltung, fallen sonst aber nicht groß auf. Das Leben des Fanatikers dagegen wird ausschließlich durch eine Idee bestimmt, bis in die kleinsten Bereiche hinein.
Der „Radikale“ kennt Gegner, aber keine Feinde. Er ist dialogbereit, lässt sich auf Diskussionen ein, auch wenn das mal mit wenig Verständnis und mit Aggressivität geschieht. Aber er sieht nicht gleich im Anderen jemanden, den es zu vernichten gilt.

Nimmt der Extremismus in den letzten Jahren zu oder scheint das nur so?
Europaweite Untersuchungen zeigen: 1960 lag der Anteil von Wählern populistischer Parteien im Durchschnitt der Länder bei fünf Prozent, im Jahr 2016 bei 13 Prozent. Parteien wie die AfD in Deutschland, der Front National in Frankreich oder die FPÖ in Österreich sind im Aufschwung. Ihre Wähler sind zu 70 bis 80 Prozent bekennende Gegner von liberaler Demokratie und Globalisierung.
Heute haben ungefähr 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung nationalistische, rassistische, islamophobe, antisemitische oder homophobe Einstellungen. Das ist im Vergleich zu zehn Jahren zuvor erschreckend gestiegen! Das hat sich zugespitzt, seit die Unsicherheiten in der Welt extrem zugenommen haben.
Wir haben 4 500 Leute nach ihren Sicherheitsbedürfnissen gefragt und herausgefunden: Je größer die empfundene Selbsterschütterung, also eine tiefe Verunsicherung ist, desto eher besteht die Neigung zu einer radikalen, fanatischen Haltung.

Was ist der Nährboden, auf dem Radikalisierung gedeiht?
Seit den 1960er-Jahren spricht man über den Individualisierungszwang. Damit ist gemeint, dass sich viele ursprünglich verbindliche Selbstverständlichkeiten aufgelöst haben. Früher war die Lebensbahn vorgezeichnet, ob man nun Sohn eines Arbeiters oder eines Studienrates war. Die Kinder haben die Werte und Lebenspläne ihrer Eltern weitgehend übernommen. Das hat sich grundlegend geändert, seitdem man stärker selbst entscheiden kann und muss, was man für richtig und falsch, gut und böse hält, welchen Normen man folgen möchte in Familie, Kindererziehung, Berufsfindung. Man kann sich nicht mehr darauf verlassen, in einen festen sozialen Zusammenhang eingebettet zu sein. Das führt dazu, heute bei unglücklichen Entwicklungen zu fragen: Bin ich selbst schuld? Wer stützt mich, wenn ich versage? Das ist der Grundtenor, auf dem andere Unsicherheiten ihre Wirkung entfalten.
Es ist nicht lange her, da sahen die Leute in der Globalisierung eine große Chance. Das ist gekippt: Heute sehen 45 Prozent der Europäer darin eine Gefahr, die zentrale Ursache des Terrorismus und der Migrantenströme. Sie haben den Eindruck, durch die Digitalisierung, die Zusammenführung der Märkte, das internationale Finanzkapital, zu verlieren. Das ist Teil dieses Nährbodens.

Nicht jeder, den die Entwicklungen verunsichern, wird extremistisch. Wovon hängt es ab, ob sich jemand radikalisiert oder nicht?
Man spricht von Resilienzfaktoren, Elementen, die Widerstandskraft geben. In vielen Erhebungen haben wir gefragt: Was sind das für Leute, die gestärkt aus Situationen der Unsicherheit hervorgehen? Was unterscheidet sie von denen, die daran scheitern, verzweifeln, resignieren? Ein Grund liegt in sehr unterschiedlich ausgeprägten Sicherheitsbedürfnissen. Wer ein hohes Maß an Sicherheit braucht, scheut eher Veränderungen, weil er sie mit Gefahren verbindet. Man vermutet, dass die Unterschiede in Sicherheitsbedürfnis und Lust am Risiko in der Stärke der frühen persönlichen Beziehungen zu suchen sind. Menschen, die in der Kindheit Vertrauen in sich, ihre soziale Umgebung, Familie und Freunde entwickelt haben, sind viel weniger anfällig für Radikalisierungen, da sie weniger als andere von „äußeren“ Sicherheiten abhängig sind.
Weitere wichtige Resilienzfaktoren sind verlässliche soziale Beziehungen, die freiwillige Einbindung in einen größeren Verbund: Familie, Freunde, Gewerkschaften, Parteien, Religionsgemeinschaften, Vereine.
Auch das „Kohärenzgefühl“ schafft Widerstandsfähigkeit: Das haben Menschen, die dem, was um sie herum passiert, einen Sinn abgewinnen können. Sie sind sicher, dass sie ihren Platz in der Welt haben und etwas bewegen können. Sie gehen nicht gleich mit Misstrauen und Sorge an jede Veränderung der Lebenslage heran, sondern suchen darin einen Sinn, eine Bedeutung, die sie für sich selbst nutzbar machen können.
Das sind Fähigkeiten, die Menschen gegen einen Ansturm von Ungewissheiten und Selbsterschütterung wappnen.

Woran kann man erkennen, ob jemand dabei ist, extremistisch zu werden?
Es gibt Untersuchungen über Jugendliche, die aus dem Dschihad zurückgekommen sind. Die haben oftmals ihre Lebensweise in kurzer Zeit völlig geändert. Eine Veränderung der Kleidung, des ganzen Auftretens können Anzeichen sein. Oft schildern sie ein Erweckungserlebnis: Plötzlich habe ich verstanden, wie die Welt funktioniert, wo mein Platz in der Welt ist und wofür es sich zu leben lohnt.
Ein anderes Merkmal ist eine kompromisslose Selbstgerechtigkeit. Keine andere Meinung gilt mehr, das Weltbild schrumpft zusammen auf trennende Gegensätze wie Freund – Feind, gut – böse, wahrhaftig – verlogen. Sie reden nicht mehr mit Leuten wie „Ungläubigen“, Nichtveganern, Nichtsportbesessenen, „Fremden“, sondern ziehen sich zurück unter ihresgleichen. Die anderen werden „missioniert“ oder bekämpft. Wer merkt, mit dem konnte man doch früher reden, jetzt aber bekommt er Hassattacken und sondert sich von Freundeskreisen ab, sollte alarmiert sein. Häufig kommen Humorlosigkeit und extremes Perfektionsstreben dazu: Kein Fehler darf passieren, sonst empfindet sich derjenige als minderwertig, sündig.

Was kann man den Radikalisierungstendenzen entgegensetzen?
Eine Strategie, die im schulischen Bereich, aber auch darüber hinaus angewandt wird, ist ein systematisches Trainieren von Perspektivenübernahme: Ein Jugendlicher, der von seiner „heiligen Idee“ überzeugt ist, muss die Rolle seines Gegners einnehmen. Geschickt gemacht, kann das zum Nachdenken führen und einen Umdenkprozess einleiten.
Im berechtigten Kampf um Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit müssen „wir“ aufpassen, nicht die gleichen Mittel zu benutzen wie die Extremisten: Schwarz-weiß argumentieren, den Dialog verweigern. Das ist eine Falle, weil es sie in ihrem Denken bestätigt. Wieso wird der Liberale, der sonst für die Rechte der Minderheiten kämpft, intolerant gegenüber Minderheiten, die etwa seine Idee von einer multikulturellen Gesellschaft bekämpfen? Klar, dahinter steckt ein enormer moralischer Konflikt. Aber so schlimm die Taten von Rassisten, Nationalisten und anderen Fremdenfeinden sind, sie bleiben Menschen. Ihr Verhalten muss man verurteilen, aber nicht sie als Personen verdammen. Sich in moralische Überlegenheit zurückzuziehen, ist keine Lösung. Damit wiederholt man das gleiche Schema, das man bei ihnen kritisiert, und verliert sie vollends.

Die zunehmende Radikalisierung lässt sich als Aufforderung an die Gesellschaft verstehen, selbstkritisch zu fragen: Was läuft schief? Aber das geschieht zu wenig.
Ich bin derselben Meinung. Viele politische Entscheidungen von Angela Merkel schätze ich wert. Aber was ich ihr vorwerfe – und nicht nur ihr – ist die Haltung der Alternativlosigkeit. Denn die bedeutet ja, wer eine Alternative sieht, liegt falsch. Es ist im Grunde eine Diffamierung Andersdenkender. Und: Es gibt keinerlei wertorientierte Begründung von Politik! Ich glaube, darunter leiden Menschen am meisten. Sie werden mit vielen Missständen fertig, wenn sie eine wertbezogene Begründung haben: Das muss jetzt sein, um die Demokratie zu festigen; gegen diese Ungerechtigkeit kämpfen wir, weil jeder Mensch Rechte hat und eine Würde. Aber es wird zu wenig ein Werthorizont aufgezeigt. Der erst schafft Orientierung, nicht die Einzelmaßnahme. Das ist ein kommunikatives und  damit strategisches Versagen der Politik.

Ich danke Ihnen; das war sehr erhellend.

Clemens Behr

Ernst-Dieter Lantermann
Geboren 1945 in Oberhausen, studierte Lantermann Psychologie in Bonn. Von 1979 bis 2013 war er Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel. Viele seiner Artikel und Fachpublikationen beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Mensch und Umwelt, Denken und Gefühl sowie Komplexitätsmanagement. In den letzten 15 Jahren leitete er zahlreiche Studien über Bewältigungsstrategien von Unsicherheiten und erforschte zusammen mit dem Soziologen Heinz Bude Hintergründe und Folgen gesellschaftlicher Ausgrenzung.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März/April 2017)
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