10. Juni 2009

„Komm herüber und hilf uns!“

Von nst_xy

Nach Griechenland, auf die Spuren des Apostels Paulus, führte die diesjährige Leserreise der NEUEN STADT.

Sonntag, 12. April
Griechenland ist christlich – das merken wir schon bei unserer An­kunft in Thessaloniki: Die einhei­mische Reiseführerin heißt Evangelia, unser Busfahrer Dimitris, nach dem Ortsheiligen, und unser Hotel liegt im Vorort Hagia Triada, also Heilige Dreieinigkeit.
Auf vier historischen Schichten soll sich die Reise bewegen, deren 45 Plätze schon zwei Tage nach der Ankündigung ausgebucht waren: das klassische Griechenland, also gewissermaßen der kultu­relle Boden, auf den Paulus seine Füße setzte; die Zeit, in der Paulus selbst gelebt hat; das Eintauchen in die Welt der orthodoxen Kirche in Griechenland; und nicht zuletzt unsere ganz persönliche Begeg­nung mit diesem Paulus heute.

Montag, 13. April
Mit dem Bus geht es nach Osten, in die Hafenstadt Kavala, die in der Antike Neapolis hieß. Paulus war einer, der sich führen ließ. Als ihm im Traum der Makedonier zurief: „Komm herüber und hilf uns!” (Apg 16, 11), machte er sich auf den Weg. Hier, in Neapolis, betrat er zum ersten Mal europäischen Boden.
Über eine Bergkette war er dann 15 Kilometer weiter nach Philippi gewandert. Die Purpurhändlerin Lydia empfing von ihm als erste Europäerin die Taufe. Aber schon hier wurde er als Unruhestifter ins Gefängnis geworfen und durch ein Erdbeben wundersam befreit. Philippi blieb zeit seines Lebens seine erste und liebste Gemeinde.
Unser Gottesdienst an der „Tauf­stelle der Lydia” am Flüsschen „Gangites” wird zu einem ersten Höhepunkt der Reise. Getauft zu sein, das wird hier deutlich, ist nichts Selbstverständliches, son­dern Grund zum Danken.
Dann beginnt das, was ein Teil­nehmerscherzhaft das „Anschauen von Steinhaufen” nennt. Die Steine des antiken Philippi reden vor allem von der römischen Zeit, in der die Via Egnatia, die wichtigste West-Ost-Verbindung des römischen Reiches, mitten durch die Stadt führte. Und sie reden von der großen byzanthinischen Zeit, aus der noch die Reste von zwei kolossalen Kirchbauten zu sehen sind: Zeugnis dessen, was aus der Bekehrung einer Purpurhändlerin alles hervorgegangen ist.

Dienstag, 14. April
In Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt Griechenlands, sind die „Steinhaufen” größtenteils verbaut. Gegründet von einem der Generäle Alexanders des Großen wurde die Stadt unter den Römern Bezirks­hauptstadt. Auch hier hatte sich Paulus vor den Behörden zu verant­worten. Religiöse Angelegenheiten waren den Römern egal, aber eine Störung der öffentlichen Ordnung verfolgten sie hart. Dies nutzten die Gegner des Apostels wohl immer wieder aus (Apg 17,6 ff).
Auch den „geistlichen Nach­fahren” des Paulus blieb die Verfolgung nicht erspart: Unter der Hauptkirche der Stadt kann man die Reste des römischen Badehauses sehen, in dem der heilige Demetrios um 303 den Märtyrertod starb.
90 Kilometer weiter im Westen liegt die Ortschaft Vergina. Unter einem makedonischen Grabhügel fand 1977 der Archäologe Manolis Andronikos die unversehrte Ruhe­stätte des Makedonierkönigs Phil­ipps II. und seiner Gemahlin Kleopatra, also der Eltern Alexanders des Großen. Der Grabhügel wurde inzwischen zum Museum. Die atemberaubenden Grabschätze sind äußerst effektvoll in raffiniert ausgeleuchteten Vitrinen ausge­stellt. Sie bezeugen den Höhe­punkt des großen makedonischen Reiches – und dessen nahes Ende.
Doch ohne die von Makedonien ausgegangene Verbreitung der hellenistischen Kultur im ganzen Mittelmeerraum, wäre die schnelle Ausbreitung des Christentums kaum möglich gewesen.

Mittwoch, 15. April
Nach der Übernachtung in Kalambaka, am Fuß der weltberühmten Meteora-Klöster, tauchen wir heute ein in die geistliche Welt des orthodoxen Mönchtums. Schon im 11. Jahrhundert lebten in den Felshöhlen der fast senk­rechten Bergwände Eremiten. Im 14. Jahrhundert schlossen sie sich in Gemeinschaften zusammen. Das erste größere Kloster auf den Felsen „zwischen Himmel und Erde”, so eine Übersetzung von „Meteora”, wurde 1356 gegründet. Ende des 15. Jahrhunderts waren es 24; heute sind noch sechs Klöster bewohnt.
Nahe dem berühmten Thermopylen-Pass geht die Fahrt ins Parnass-Gebirge. Hier haben im Jahr 480 v. C. die legendären 300 Spartaner bis zum letzten Mann ein übermächtiges Perserheer auf­gehalten und damit den Athenern die nötige Zeit zur Vorbereitung der siegreichen Entscheidungs­schlacht erkämpft. Was wäre aus Europa geworden, wenn die Perser damals durchmarschiert wären?

Donnerstag, 16. April
An der Südflanke des Parnass-Gebirges liegt das antike Heiligtum von Delphi – wieder ein großer „Steinhaufen”. Vom zweiten Jahr­tausend v. C. bis ins fünfte Jahr­hundert nach der Zeitenwende sprach hier durch den Mund einer Priesterin das Orakel von Delphi. Es wurde in allen wichtigen religi­ösen, moralischen und politischen Fragen zu Rate gezogen.
Im Museum, fast schon auf dem Flur am Ausgang, findet sich eines der wichtigsten Dokumente der Bibelforschung: die so genannte Gallio-Inschrift. Sie erlaubt eine Datierung der Amtszeit des Pro­konsuls Gallio (Apg 18, 12-18) und liefert damit den einzigen Fix­punkt für die zeitliche Einordnung des Lebens von Paulus.
Anschließend geht es in einer dreiviertelstündigen Fahrt zum Kloster Osios Loukas, das vor allem wegen seiner einzigartigen byzanthinischen Mosaiken seit 1990 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört.
Der Rückweg wird bedrückend: In der kleinen Ortschaft Distomo besuchen wir ein Mahnmal. Weil im Nachbardorf drei deutsche Soldaten von durchziehenden Par­tisanen erschossen worden waren, metzelten am 10. Juni 1944 SS-Truppen alle in Distomo verblie­benen 228 Bewohner nieder, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Unsere griechische Reiseführerin und Busfahrer Dimitris rechnen uns diesen Zwischenstopp hoch an.

Freitag, 17. April
Wir haben die Nacht bereits in einem Hotel am Golf von Korinth verbracht. Ein Schiff der Kanals­gesellschaft fährt uns am Morgen zweimal durch den berühmten Kanal, der die korinthische Land­enge durchsticht. Obwohl bereits Kaiser Nero das Projekt plante, wurde der 6,3 Kilometer lange Kanal erst in den Jahren 1881 bis 1893 verwirklicht. Die Kanalwände erreichen eine Höhe bis 45 m.
Am späten Vormittag feiern wir Gottesdienst an der Ausgrabungs­stätte von Kenchräa, einem der beiden Häfen des alten Korinth. Hier hatte sich Paulus am Ende seiner zweiten Missionsreise nach Syrien eingeschifft (Apg 18, 18).
Drei weitere „Steinhaufen” warten auf uns: Zunächst die Ausgrabungsstätte des alten Ko­rinth. 18 Monate war Paulus allein auf seiner zweiten Missionsreise. Später kam er noch einmal und hielt dazwischen engen Briefkon­takt mit der Gemeinde, die ihm viele Sorgen bereitete. Gott sei
Dank! – mag man heute sagen, denn so haben wir die wunder­baren Briefe an die Gemeinde von Korinth. Zu sehen ist aus dieser Zeit das Podest der so genannte Bema, einer Tribüne, auf der wohl der bereits erwähnte Statthalter Gallio gegen Paulus verhandelte (Apg 18, 12-17).
Eine Busstunde weiter im Süd­westen kommen wir tief in die Antike: nach Mykene, der Sagen umwobenen, von Heinrich Schliemann ausgegrabenen Königsstadt des Troja-Kriegers Agamemnon. Kurz nach 2000 v. C. errichteten die ersten griechischen Stämme Herrensitze: gewaltige Festungen mit „Kyklopenmauern”. Die Blüte Mykenes begann um 1600. 400 Jahre später setzte der Verfall ein.
Die beiden großen Leistungen der mykenischen Architektur sind die Palastburg und das Kuppelgrab: beide monumentaler Ausdruck fürstlicher Macht.
Gegen Abend fahren wir noch nach Epidauros in das antike Heiligtum des Gottes Asklepios (Äskulap). In seiner Blüte­zeit war es eine Kombination aus Kur- und Wallfahrtsort. Zu den therapeutischen Methoden ge­hörten Diät, Bäder, sportliche Be­tätigung und Theaterbesuche aber auch ein Heilschlaf im Heiligtum. Epidauros besitzt das besterhal­tene griechische Theater mit einer außerordentlich Akustik.

Samstag, 18. April
Wir sind in Athen angekommen, der vier Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt Griechen­lands. Der Tag beginnt im ar­chäologischen Nationalmuseum, das mit seinem überwältigenden Reichtum an Ausstellungsstücken noch einmal die Kulturgeschichte dieses Landes im Zeitraffer vor unseren Augen vorüberziehen lässt. Es ist verständlich, dass Paulus die „Konfrontation” mit der Geis­teswelt Athens gesucht hat. Und es ist bezeichnend, dass er ausge­rechnet hier wohl am deutlichsten gescheitert ist. Unter strahlend blauem Himmel geht es dann auf die Akropolis. Ursprünglich Wohnsitz der Kö­nige von Athen wurde hier erst im frühen 6. Jahrhundert v. C. ein Tempel aus Stein errichtet. Unter Perikles bekam der Burgberg eine neue Gestalt mit den Bauwerken, die noch heute das Bild der Akro­polis bestimmen: Den großen Par­thenon-Tempel, die Propyläen, den Niketempel und das Erechtheion. Jedes einzelne dieser Gebäude ist in seiner Art und Ausführung etwas Unerhörtes. Nordwestlich der Akropolis liegt der Areopag-Felsen, bei dem in historischer Zeit der gleichnamige oberste Gerichtshof der Stadt tagte. Hierher verlagert Lukas, der Autor der Apostelgeschichte, die großar­tige Paulusrede in Athen (Apg 17, 19) vom unbekannten Gott. Sie gipfelt in dem Satz: „In ihm (Gott) leben wir, bewegen wir uns und sind wir.” – Doch als Paulus von der Auferstehung der Toten zu reden beginnt, verlieren die Athener schnell das Interesse.
Heute ist das anders. Nach dem orthodoxen Kalender ist Kar­samstag, und überall in der Stadt wird um Mitternacht ausgelassen die Auferstehung Christi gefeiert.

Sonntag, 19. April
Letzte Station unserer Reise ist das von orthodoxen Nonnen aus zwölf Nationen bewohnte Pauluskloster in Lavrion, 70 Kilometer südlich von Athen. Schwester Theodoule ist in Deutschland geboren und steht uns Rede und Antwort zu allen Fragen über ihr klösterliches Leben. Eine geistliche Kernaussage über die Berufung und die Rolle der Mönche und Nonnen lautet: „Die Engel schauen auf Gott, die Mönche schauen auf die Engel, die Men­schen schauen auf die Mönche.”

Die Reise war ungeheuer dicht, aber zugleich von jener Leichtigkeit ge­prägt, die für NEUE STADT-Reisen typisch ist, und die entsteht, wenn die Mitreisenden mit Wachsamkeit und Engagement das Ganze mit­tragen. Paulus ist auf dieser Reise lebendig geworden in uns, hat Kon­turen bekommen, auch Ecken und Kanten. Dankbarkeit diesem Mann gegenüber wäre zu wenig; er ver­langt Nachahmung, so wie er den nachahmte, den er verkündigte.
Joachim Schwind

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2009)
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