10. Juli 2009

Alles steht und fällt mit den Beziehungen

Von nst_xy

Der Ökumenische Rat der Kirchen oder Weltkirchenrat mit Sitz in Genf versteht sich nicht so sehr als Institution oder Organisation, sondern eher als Gemeinschaft von Kirchen. Was das bedeutet, erläutert einer der Direktoren, Martin Robra. Mit ungebrochener ökumenischer Leidenschaft spricht er auch über Hindernisse und Perspektiven auf dem Weg der Ökumene.

Herr Robra, der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) umfasst 349 Kirchen in über 100 Ländern.
Robra:
Die Zahl ändert sich immer wieder, weil Kirchen sich zusammenschließen oder wieder eine neue dazukommt; im Moment liegt sie bei 348. Unter dem Dach des Ökumenischen Rates sind östlich-orthodoxe Kirchen, orientalisch-orthodoxe Kirchen, Anglikaner, Protestanten, Lutheraner, Reformierte, Methodisten, Baptisten, einige Pfingstkirchen und auch einige afrikanische unabhängige Kirchen zusammengeschlossen.

Eine ganz schön bunte Mischung!
Robra: Und ob! Die Spannbreite ist sehr groß. Das ist sicherlich eine Herausforderung. Das ist aber auch das Geschenk dieser Plattform – besser noch: dieser Gemeinschaft. Der ÖRK will nämlich eine Gemeinschaft von Kirchen sein, und das Sekretariat in Genf dient dieser Gemeinschaft der Mitgliedskirchen, zu denen etwa 550 Millionen Menschen gehören.

Wie lässt sich denn eine solche Gemeinschaft managen?
Robra:
Gar nicht! Tatsächlich sagte unser Generalsekretär 2006 bei der Vollversammlung in Porto Alegre: „It’s all about relationships“ – „Alles steht und fällt mit den Beziehungen“.
Der ÖRK ist der gelebte Traum, dass die Kirchen eins sein sollen. Und selbst wenn wir programmatische Arbeit machen – zu Fragen der Wirtschaft, Gesundheit, Krankheit, AIDS und anderen Themen – steht doch immer die Beziehung zwischen den Kirchen im Mittelpunkt und dass man zur Einheit der Kirchen beiträgt. Man verbindet also die Arbeit an der Einheit mit dem Zeugnis in der Welt. Dafür müssen die Beziehungen unter den Mitgliedskirchen stimmen.

Das hört sich wahnsinnig anstrengend an.
Robra:
Na ja. Aber gute Beziehungen sind nicht unbedingt konfliktfrei. Die Qualität von Beziehungen zeigt sich daran, dass sie halten, auch wenn sie getestet werden. Und trotz all der zentrifugalen Kräfte, die auf die Kirchen einwirken, hat es der ÖRK geschafft, dass sie beieinander geblieben sind und trotz aller Schwierigkeiten immer wieder bekräftigt haben: „Wir wollen den begonnenen Weg miteinander weitergehen.“

Können Sie ein Beispiel für solche Schwierigkeiten nennen?
Robra:
Das stärkste Beispiel dafür ist sicher die Sonderkommission für die Beteiligung der orthodoxen Kirchen im Ökumenischen Rat. Zwei Kirchen hatten den Ökumenischen Rat verlassen, und es stand kurz vor dem Bruch mit der größeren Gemeinschaft der Orthodoxen Kirchen. Aber wir haben uns nicht nur durch den Konflikt durchgearbeitet, sondern auch ganz wichtige neue Erfahrungen dabei gemacht. Danach haben wir zum Beispiel das „Konsensprinzip“ eingeführt. Das ist eine völlig andere Form der Beratung, der Urteilsfindung, des Versuchs, die Geister zu unterscheiden und auf Gottes Geist zu hören, als wir sie früher mit dem parlamentarischen System hatten.

Und wie kommt man zu so einer Konsensentscheidung?
Robra:
Es geht darum, Räume zu schaffen, damit alle sprechen können und alle gehört werden. Das braucht Zeit. Aber mit guter Moderation kann man sehr schnell herausfinden, wo Einigkeit besteht, und auch, wo es noch Diskussionsbedarf gibt.
Das Prinzip ‚Mehrheit über Minderheit’ zerstört die Gemeinschaft. Es schafft Unzufriedenheit und schwächt damit die gemeinsame Stimme der Kirchen in dieser Welt. Wenn die Kirchen sich nicht einig sind und trotzdem den Eindruck erwecken wollen, dass sie gemeinsam etwas zu sagen haben, merken das diejenigen, die angesprochen sind, sehr schnell. Deshalb gewinnen wir nichts mit Verfahren, bei denen man zwar zu einer Erklärung oder einer konkreten Aussage kommt, die aber nicht von allen getragen wird. Wenn sie noch nicht von allen vertreten oder nicht von allen umgesetzt wird, bringt das nicht weiter.

Aber oft sind ja schnelle Entscheidungen und Ergebnisse gefragt.
Robra:
Es gibt natürlich auch in den Kirchen die Kultur der Effizienz, des Tempos, wie sie die Wirtschaft geprägt hat und noch prägt. Die große Leistung des Ökumenischen Rates hat für mich immer darin bestanden, dass wir trotz der Vielfalt und Komplexität stabile Ziele und Richtungen vorgeben konnten. Das dauert manchmal etwas länger. Aber dann hat man eine stabile Basis, die mit Gewissheit von der Gemeinschaft mitgetragen wird. Der Ökumenische Rat schafft dieses stabile Umfeld. Dass wir dafür ein bisschen mehr Zeit brauchen, ist nichts Schlechtes.
Die ökumenische Bewegung ist immer noch eine Pionierbewegung für eine wirklich globale Welt, in der nicht nur wenige bestimmen, wie diese Welt und einzelne Prozesse sich entwickeln. Hier kann sich die neue Kultur einer Menschheit herausbilden, die voneinander weiß, miteinander teilt und sich wechselseitig trägt. Wo sonst gäbe es einen Ort, an dem das geschehen kann?
Bisher gibt es nationale Kulturen, vielleicht auch regionale. Auf internationaler Ebene gibt es Staatengefüge und Institutionen. Aber eine Kultur, mit der wir eine Weltgemeinschaft bauen können, liegt noch vor uns. Die Ökumenische Bewegung hat angefangen, darauf hin zu arbeiten. Die Konsensentscheidung ist ein unerlässliches Element dafür in solch hochkomplexen Zusammenhängen.

Sagen Sie bitte noch etwas zur Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche, die ja nicht Mitglied im ÖRK ist?
Robra:
Seit dem 2. Vatikanischen Konzil gibt es eine enge Zusammenarbeit. Und auch in jüngster Zeit haben Papst Benedikt XVI. und Kardinal Kaspar immer wieder betont, dass die Entscheidung für die Ökumenische Bewegung nicht umkehrbar ist, und die katholische Kirche auf diesem Weg weitergehen wird.
Diesen Weg hat unser Generalsekretär einmal mit einer Bergwanderung verglichen. Am Anfang kommt man schnell vorwärts, aber wenn es dann in die steileren Stücke und die Felsen geht, kommt man nur noch langsam voran. Man muss genauer hinschauen, sich sichern und schauen, dass keiner abstürzt. Mir gefällt dieses Bild, um Menschen den ökumenischen Weg begreiflich zu machen.
Die katholische Kirche ist im ÖRK in sehr vielen Kommissionen und Arbeitsgruppen sehr aktiv, in mancherlei Beziehung fast aktiver als viele unserer Mitgliedskirchen. Da passiert sehr viel an geduldiger und konstruktiver Zusammenarbeit.

Aber sie ist nicht Mitglied.
Robra:
Das stimmt. Im Hintergrund steht hier immer die strukturelle Frage: Die römisch-katholische Kirche ist eine große Weltkirche mit gut einer Milliarde Mitgliedern. Auf der anderen Seite ist eine Gemeinschaft von vielen sehr viel kleineren Kirchen, die sich im ÖRK eine Plattform geschaffen hat. Diese strukturelle Asymmetrie kann man sicher auch nicht so schnell überwinden. Deshalb spielen die Bewegungen, insbesondere die Fokolar-Bewegung, als Brückenbauer eine sehr wichtige Rolle. Wenn die Einheit wachsen soll, und das in der Struktur nicht möglich ist, braucht es die Spiritualität, eine Spiritualität der Einheit, die uns wachsen und weitergehen lässt. Das ist notwendig für die gesamte Ökumenische Bewegung.

Können Sie den Leserinnen und Lesern einen Tipp geben, wie sie die Arbeit des Ökumenischen Rates begleiten und die Ökumenische Bewegung unterstützen können?
Robra:
Ich sage es mit dem Ausspruch bei einer Tagung: „Es geht nur um eines: lieben, lieben, lieben.“ Das heißt an dem Ort, an dem man lebt, die gegenseitige Liebe in den Beziehungen zu leben. Dann sollte man sich keine Sorgen darüber machen, ob das für den ÖRK wichtig ist. Was zählt, ist, ob es für die Einheit der Kirchen wichtig ist, ob damit Menschen die Gegenwart Christi in der Welt erfahren. Das zählt!
Wenn man dann mehr über den Ökumenischen Rat der Kirchen erfahren will, sollte man sich an Ökumenebeauftragte und Missionsbeauftragte der Kirchen wenden. Auf einer Webseite im Internet ist alles unpersönlich, da entstehen keine Beziehungen.

Sie arbeiten schon so viele Jahre in der Ökumene und sind noch so begeistert. Wie kommt das?
Robra:
Ich glaube an die Aufgabe des Ökumenischen Rates und daran, dass Ökumene nicht etwas ist, das wir tun oder lassen können. Sie macht das Zentrum dessen aus, was Gott von uns will. Gott ist der Gott aller Menschen, der Gott allen Lebens. Ökumene hat für mich diese Dimension.

Vielen Dank für das sehr interessante Gespräch.
Gabi Ballweg

Martin Robra,
Jahrgang 1954, ist im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) seit 2007 Direktor der Programmeinheit „ÖRK und ökumenische Bewegung im 21. Jahrhundert“. Er begann 1994 beim ÖRK und war zunächst verantwortlich für die Bereiche Ethik und Ökologie. Zu seiner Arbeit gehörte die Begleitung des Programms zum Klimawandel und des Ökumenischen Wassernetzwerks. Bis 1994 war Rrobra Pfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bochum und Witten. Er ist verheiratet und hat fünf Kinder.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2009)
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