10. Juli 2009

Morgens Schüler, mittags Lehrer

Von nst_xy

Die 18-jährige Tamara Awwad hat zusammen mit noch jüngeren Freunden in Amman, der Hauptstadt Jordaniens, eine Schule für irakische Flüchtlingskinder gegründet. Sie erzählt, was sie dazu bewogen hat und wie ihre Schule funktioniert.

Es ist eine Schule von Jugendlichen für Flüchtlingskinder, nicht nur mal eben so zum Spaß, sondern mit richtigen Lehr- und Stundenplänen, Hausaufgaben und Zeugnissen. Der Unterricht findet an zwei Tagen pro Woche statt. Die Schüler sind in der Regel zwischen sechs und 16, ihre Lehrer zwischen 14 und 18 Jahren alt. So könnte man die ungewöhnliche Initiative zusammenfassen, von der Tamara Awwad aus Amman, der Hauptstadt Jordaniens, berichtet.

Alles begann im Sommer 2003. Im Frühjahr hatte es im Nachbarland Irak Krieg gegeben. Tausende von Flüchtlingen haben in der Folge – und bis heute – ihre Heimat verlassen.

Viele kamen zunächst nach Jordanien. Vor allem in Amman suchen sie Zuflucht, bis sie nach Europa oder in die USA auswandern können. Man schätzt, dass in den vergangenen sechs Jahren über eine Million Iraker für einige Monate oder auch mehrere Jahre im Haschemitischen Königreich Station gemacht haben. Bei einer Gesamtbevölkerung von etwas mehr als fünf Millionen Menschen ist das keine kleine Herausforderung für das Land in Vorderasien.

Tamara Awwad ist inzwischen 24 Jahre; damals war sie 18. Schon seit einiger Zeit kannte sie die Jugendlichen der FokolarBewegung, die „teens4unity“. Im Sommer 2003 erfuhren sie vom Beginn einer weltweiten Initiative, den „Schoolmates“ (zu deutsch: Schulfreunde). Damit wollen die „teens4unity“ Freundschaften mit Schülern anderer Länder knüpfen und möglichst viele Schulklassen motivieren, Patenschaften für Klassen in ärmeren Ländern zu übernehmen. Via Internet pflegen sie diese Freundschaften und durch Aktionen sammeln sie Geld, das ihren Patenklassen hilft, Bücher zu kaufen oder das Schulgeld zu zahlen. Die Basis dieser weltweiten Schulfreundschaften ist die Goldene Regel: „Alles was ihr von anderen erwartet, das tut auch ihnen.“ Auf dieses Programm verpflichten sich alle Teilnehmer.

Tamara und ihre Freunde, die „teens4unity“ in Jordanien, waren begeistert. „Aber“, so erzählt die junge Frau, „wir brauchten gar nicht weit weg zu schauen!“ In ihrem Stadtviertel in Amman, gleich um die Ecke, gab es viele Flüchtlingsfamilien aus dem Irak. Als Flüchtlinge durften die Kinder in Jordanien nicht zur Schule gehen. Sofort sei ihnen klar gewesen: „Wenn wir fliehen müssten – wir wären echt froh, wenn wir wenigstens mit der Schule weiter machen könnten.“

Mit jugendlichem Optimismus beschlossen die jungen Jordanier, eine Schule zu gründen, und machten sich mit Eifer ans Werk. Bei der Caritas fragten sie an, ob sie dort mit ihrem Unterricht beginnen konnten. An zwei Nachmittagen stellte man ihnen die Flure als Klassenräume zur Verfügung. „Jetzt hatten wir schon einmal einen Ort, aber sonst noch nichts,“ wundert sich Tamara immer noch über ihren eigenen Mut. „Die einfache Schiefertafel, die wir bekommen hatten, stellten wir auf einen Stuhl und lehnten sie an die Wand, die Stühle holten wir aus anderen Räumen, und die Kinder schrieben auf ihren Knien.“ Nach und nach sammelten die jugendlichen „Lehrer“ Bücher und Hefte zusammen, auch ihre eigenen, ausrangierten kamen wieder zum Einsatz.

Am Anfang hatten sie etwa 20 Schüler, und Tamara und vier ihrer Freunde unterrichteten alle gemeinsam. An ihre erste Unterrichtsstunde kann sich die junge Jordanierin noch bestens erinnern.

„Ich hatte Angst, dass ich es nicht schaffen würde und dass die Kinder nichts lernen würden. Die Kinder hingegen waren unruhig und vielleicht auch erstaunt, dass wir sie wirklich ernsthaft unterrichten wollten.“ Viele seien schon lange nicht mehr in der Schule gewesen und standen noch unter dem Eindruck des Krieges und der Flucht. „Als sie anfingen, Bilder zu malen, waren da Panzer, Bomben und Soldaten.“

Direkt aus dem eigenen Unterricht kamen die jungen Lehrerinnen und Lehrer in ihre neue Schule. Ihre Eltern waren nicht gerade begeistert, eher in Sorge, dass das eigene Lernen nun zu kurz käme. „Aber wir haben uns angestrengt! Keiner bekam schlechtere Noten, im Gegenteil!“ Tamara sagt das nicht ohne Stolz. Schon nach kurzer Zeit bemerkten die Junglehrer, dass sie nicht alle Schüler gemeinsam unterrichten konnten. Sie teilten sie in Gruppen auf, und jeder musste eine übernehmen. Nach und nach fanden sie unter ihren Freunden weitere Lehrkräfte; jetzt konnten immer zwei gemeinsam eine „Klasse“ unterrichten.

Inzwischen besuchen jährlich etwa 100 Schülerinnen und Schüler die „Irakische Schule“, wie sie im Stadtviertel einfach genannt wird. Sie bleiben, bis ihre Familien eine Einreiseerlaubnis für ein europäisches Land oder die USA bekommen. Manchmal dauert das nur wenige Monate, manche warten aber auch schon länger als fünf Jahre. Am Anfang kamen fast alle Kinder aus christlichen Familien, weil die in dem Stadtviertel wohnten, wo sie anfingen. Mit der Zeit kamen aber auch immer mehr muslimische Schüler hinzu. In den sechs Jahren ihres Bestehens ist die „irakische Schule“ zweimal umgezogen; zuletzt gewissermaßen zur Untermiete in die von Franziskanern geleitete „Schule des Heiligen Landes“. Das sei eine deutliche Verbesserung, freut sich Tamara. „Hier haben wir richtige Klassenräume zur Verfügung, mit Bänken, Stühlen und Tafeln. Und wir dürfen auch das Lehrmaterial für den Unterricht nutzen.“ Noch immer spricht Tamara in der Wir-Form, obwohl sie, seit sie ihr Studium als Krankengymnastin abgeschlossen hat und berufstätig ist, nicht mehr in „ihrer“ Schule unterrichtet.

Zu Beginn jedes neuen Schulhalbjahres treffen sich die jugendlichen Lehrkräfte zu einer „Lehrerkonferenz“.

Dabei besprechen sie die Klasseneinteilung, den Lehrplan, die Termine für Klassenarbeiten und die besonderen „Fälle“. Denn „einige brauchen zunächst Einzelunterricht, damit sie den Anschluss bekommen“, erklärt Tamara, ganz im Ton einer erfahrenen Pädagogin.

Die Frage, ob sie spezielle Kurse besucht hätten, erstaunt Tamara. „Unsere Basis war und ist die Goldene Regel. Die wollen wir mit den Schülern leben. Als wir am Anfang gemerkt haben, dass die Kinder ganz verschreckt waren, da haben wir in den Pausen mit ihnen gespielt. Wenn eines Geburtstag hatte, haben wir einen Kuchen mitgebracht und gefeiert. Sie sollten spüren, dass wir sie gern haben!“ Dass sich das dann auch im Unterricht auswirkte, ist für Tamara die normalste Sache der Welt: „Wir haben einfach geschaut, was jeder braucht – und dann überlegt, was wir tun konnten.“ Dass sie hier und da auch mal bei Erwachsenen nachgefragt haben, ist klar. „Aber wenn du mit den Kindern lebst, spürst du, was sie brauchen. Und wenn sie dann anfangen zu lachen, ist das etwas ganz Besonderes!“

Trotz aller Begeisterung weiß Tamara auch von Schwierigkeiten zu berichten: „Viele Kinder hatten zuhause Probleme, die sich auch in der Schule auswirkten. Einer schlug die anderen und zog ständig die Aufmerksamkeit auf sich. Dinge verschwanden, und dann fanden wir sie in seiner Tasche wieder. Ein anderer war plötzlich weg, und wir wussten nicht, ob er nach Hause gegangen war oder nicht.“ – „Ich weiß auch nicht, wie wir es gemacht haben“, kommt es dann fast nachdenklich, „aber wir versuchten, sie zu verstehen, uns in sie hineinzuversetzen, nicht zu urteilen. So entstand nach und nach eine Beziehung.“

Und dann wiederholt sie mit Nachdruck: „Wir wollten, dass sie spürten, dass wir sie gern haben!“ Deshalb hätten sie das alles gemacht, und manchmal nach dem Unterricht auch eine Stunde und länger mit ihnen gewartet, bis sie von den Eltern abgeholt wurden. Deshalb hätten sie mit ihnen gelernt, Ausflüge gemacht, Geburtstag gefeiert. Tamara schaut auf und strahlt: „Und das Schönste war, wenn ein besonders schwieriges Kind dann sagte: ‚Das war mein allerschönster Geburtstag!’“

Mittlerweile gibt es in Jordanien acht weitere „irakische Schulen“.

Sie sind alle nach dem Vorbild der Schule von Tamara und ihren Freunden entstanden. Aber keine andere wird, wie die der „teens4unity“, von Jugendlichen geführt. Aber das sei nicht wichtig. Wichtig sei, darauf legen Tamara und ihre Freunde Wert, dass auch in diesen Schulen die Goldene Regel gelebt werde. „Wenn die Kinder und ihre Familien dann wegziehen, nehmen sie sich etwas mit, das ihnen keiner mehr nehmen kann!“
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2009)
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