10. Juli 2009

Wo Europa demokratisch ist

Von nst_xy

Wieviel Macht hat das neu gewählte Europa-Parlament?

Europa hat vom 4. bis 7. Juni für fünf Jahre ein neues Parlament gewählt. Mit 43 Prozent lag die Wahlbeteiligung dieses Mal auf einem Rekordtiefstand. Das ist auf den ersten Blick insofern erstaunlich, als viele Bürger ein Demokratiedefizit in der EU beklagen, aber offenbar gleichzeitig bei der Wahl zum europäischen Parlament zu Hause bleiben.

Sicher sind dabei einige Besonderheiten der EU-Wahlen zu berücksichtigen: Während bei der Wahl zu einem nationalen Parlament in der Regel über einen Regierungs- und Politikwechsel entschieden wird, bestimmt in der EU nicht das Parlament die Richtlinien der Politik, sondern der „Rat der Europäischen Union“. Und der setzt sich – je nach Thema – zusammen aus den Regierungschefs der Länder oder den Fachministern.

Auch die „Regierung“ der EU, die „EU-Kommission“ wird nicht gewählt, sondern vom Rat ernannt; das EU-Parlament muss sie allerdings bestätigen. Bei der Parlamentswahl gibt es auch keine europäischen Parteien oder Listen; gewählt werden nationale Parteien oder Kandidaten. Schließlich hat das gewählte europäische Parlament noch keine feste politische Tradition, so dass die Bürger kaum wissen, welche Macht es hat.

Zusätzlich verwirrend mag es sein, dass sich die Kompetenzen des EU-Parlaments von Wahl zu Wahl ändern: Das erste Parlament der Europäischen Gemeinschaft von 1979 hatte nur beratende Funktion. Es erkämpfte sich seine Rechte dadurch, dass es über Beschlussempfehlungen der Kommission und des Rates einfach nicht beriet und damit bestimmte Beschlüsse blockierte. Bald begriffen die Kommissare und Minister, dass sie mit dem Parlament wenigstens verhandeln müssen.

Erst im Vertrag von Maastricht (1991) wurde dem Parlament eine Mitentscheidung vor allem in Fragen der Wirtschaftspolitik eingeräumt. Im Vertrag von Amsterdam (1997) wurde die Mitwirkung des Parlaments auf zwei Drittel aller EU-Beschlüsse ausgeweitet.

Einen weiteren Machtzuwachs erlangte das Parlament, als es 1995 eine öffentliche Anhörung der zu ernennenden Kommissare verlangte, wofür es eigentlich keine Rechtsgrundlage gab.

1999 zwang das Parlament die gesamte Kommission zum Rücktritt, weil sie auf Korruptionsvorwürfe gegen die französische Kommissarin nicht hinreichend reagierte. 2004 schickte das Parlament den von Italien entsandten Kommissar schon bei der öffentlichen Anhörung nach Hause. Italien musste einen neuen Kommissar entsenden.

Zu Hilfe kam dem EU-Parlament auch noch das höchste deutsche Gericht, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Es entschied, dass der EU nur dann weitere Kompetenzen zugesprochen werden können, wenn das europäische Parlament in die Entscheidungen eingebunden werde.

Auf Grund dieses Urteils musste Deutschland darauf drängen, dass in den Verträgen von Amsterdam und Nizza das EU-Parlament weitere Zuständigkeiten erhielt. Inzwischen ist das EU-Parlament bei zwei Drittel aller Entscheidungen einbezogen. Mit dem Vertrag von Lissabon wird sich dieser Anteil auf nahezu 100 Prozent erhöhen.

Von allen europäischen Institutionen hat – so meine ich – das EU-Parlament den Vorwurf des Demokratiedefizits am wenigsten verdient. In 30 Jahren hat sich dieses Parlament eine beachtliche Machtposition erkämpft. Damit das bei den Wahlbürgern ankommt, muss an vielen Stellen mehr Informationsarbeit geleistet werden. Und die Kandidaten müssen künftig europäische Fragen in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen. Die Bürger werden – dessen bin ich mir sicher – diese Anstrengungen mit einer höheren Wahlbeteiligung honorieren.
Klaus Purkott

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2009)
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