10. September 2009

Mach dich auf den Weg!

Von nst_xy

Im westfälischen Kamen haben Jugendliche 2000 Menschen für eine Friedensaktion bewegt. Das hat nicht nur sie selbst begeistert.

Die Aktion war Stadtgespräch in der westfälischen Kleinstadt Kamen, zehn Zugminuten von Dortmund entfernt. „Manchmal ist sogar eine Ahnung von heiler Welt mit Händen zu greifen. Zum Beispiel, wenn Kamener sich zu einer
starken Friedensbotschaft treffen – gebürtige Westfalen und Menschen, die aus Kriegsgebieten gekommen sind, um hier zu überleben“, hieß es in einer der beiden örtlichen Tageszeitungen.
Die Rede ist von „der Menschenkette“: Am Abend des 9. Mai hatten sich rund 2000 Menschen verschiedener Herkunft, Religion und Hautfarbe auf dem Innenstadtring von Kamen eingefunden, um ein Zeichen des friedlichen Zusammenlebens in ihrer Stadt zu setzen.

Als sie sich um 20 Uhr beim Geläut der Kirchenglocken die Hand reichten, blieb das für viele „unvergesslich“ und „großartig“.

Der für Wirtschaftsförderung zuständige Referent der Stadtverwaltung, Ronald Sostmann, sagte voller Respekt: „Ich habe oft alle Einzelhändler hier angeschrieben und meist nur von etwa einem Viertel eine Rückmeldung erhalten. In dieser Stadt lebt jeder allein und für sich. Ihr habt es geschafft, ein neues Wir-Gefühl hervorzurufen.“
Genauer hätte er das Anliegen der Aktionsgruppe „go4peace“, die zur „Menschenkette für den Frieden“ eingeladen hatte, kaum treffen können. War die Kette doch nur der Abschluss eines intensiven Prozesses, mit dem die jugendlichen Akteure im Laufe weniger Wochen ein weitmaschiges Beziehungsnetz in der Stadt geknüpft hatten: Unterstützt von einigen Erwachsenen waren sie unter anderem beim Bürgermeister, in der Stadtverwaltung, bei der Polizei, in Schulen, Vereinen, Jugendzentren, bei den evangelischen Schwesterkirchen und den muslimischen Gemeinden, um für ihre Idee zu werben. Anfangs wurden sie dabei auch belächelt, „denn das Ganze schien uns eine Nummer zu groß“, meint rückblickend ein Mitarbeiter
der Stadtverwaltung.
Der Friedenskette selbst ging ein Intensiveinsatz voraus: Er begann mit dem Aufstellen von sieben so genannten „Friedensmahnern“. Diese Holzsäulen unterschiedlicher Höhe sollen die Passanten auch in Zukunft erinnern: „Weltfrieden beginnt vor Ort!“ Am Tag darauf besuchten die jungen Leute
zwischen 14 und 23 Jahren dann Menschen anderer Nationen in ihrer Stadt; über 50 Besuche, von denen sie bewegt und beeindruckt zurückkamen: „Eine solche Gastfreundschaft habe ich noch nie erlebt!“, erzählt beispielsweise
Jan (15). Andere sind erschüttert: „Damit sie ihren Glauben leben können, haben diese Menschen ihr Land verlassen.“
Stützpunkt der Jugendlichen – in den Wochen der Vorbereitung wie am Einsatz-Wochenende selbst – war ein ungenutztes Ladenlokal mitten in der Stadt. Hier trafen sie sich immer wieder: nach den Besuchen, wenn sie die VIPs der Stadt zu deren Beitrag für den Frieden interviewt oder Passanten
zur Friedenskette am Abend eingeladen hatten.
Werden sich genügend Menschen auf den Weg machen? Das war die bange Frage, die sie immer wieder beschäftigte. Am Abend war die Menschenkette dann auch
an zwei Stellen nicht ganz geschlossen. Trotzdem: Die Jugendlichen konnten stolz sein – und das bekamen sie auch immer wieder zu hören. Am meisten waren die Kamener scheinbar darüber erstaunt, „dass junge Leute von der katholischen Kirche so etwas auf die Beine stellen.“
Für die beiden Pfarrer, Bernhard Nake und Meinolf Wacker, hingegen ist dieses konkrete Tun nur eine logische Konsequenz des gelebten Evangeliums: „Wir Christen sollen ‚Salz der Erde‘ und ‚Sauerteig‘ sein und können deshalb nicht nur für uns selbst da sein.“ Deshalb sei es selbstverständlich für sie gewesen, den Blick auf die Bedürfnisse der Stadt zu richten, als sie vor einigen Monaten die Pfarrei übernahmen. „Wenn wir
nur auf uns selbst und unsere Probleme schauen, werden wir als Gemeinde und Kirche darin ersticken,“ sind die beiden überzeugt.
Bedenkt man die kirchlichen Strukturdiskussionen, die landauf landab geführt werden, ist dieser Ansatz keineswegs so selbstverständlich; auch in Kamen nicht. 10 000 Katholiken aus zwei Pfarrgemeinden gehören dort zum Pastoralverbund. Gut über acht Prozent sind noch aktive Kirchgänger,
größtenteils Personen über 60 Jahre.

„Wir wollten bewusst auf das Evangelium und seine erneuernde Kraft setzen“, beschreiben die beiden Priester ihren gemeinsamen Ausgangspunkt.

Dafür gehen sie – falls nötig – auch weniger konventionelle Wege. Diese Überzeugung vertraten sie auch bei ihren Begrüßungsbesuchen in den kirchlichen Verbänden des Pastoralverbundes: „Wir werden in keinem Verband
das Amt des Präses übernehmen. Aber wir versprechen, immer zu kommen, wenn es bei Ihren Zusammenkünften um ein Leben aus dem Evangelium oder um missionarisches Kirche-Sein geht.“ Sogar in den beiden Pfarrgemeinderäten
stießen sie mit dieser Einstellung und den Prioritäten, die sie daraus für die Gemeindearbeit setzen, nicht nur auf Zustimmung. „Manchmal war das ganz schön ernüchternd“, gestehen sie. „Wenn wir nicht zu zweit gewesen wären
und uns gegenseitig bestärken könnten, hätten wir vielleicht den Mut verloren.“ Bernhard Nake ergänzt: „Es geht vielen noch zu sehr darum, als Volkskirche in allen Bereichen versorgt zu werden. Das ist aufgrund der angespannten Personalsituation nicht mehr zu schaffen!“ Dass in der aktuellen kirchlichen Umbruchsituation noch keiner recht wisse, wie die
neue Gestalt der Kirche aussehen wird, mache das Leben nicht leichter. „Aber wenn wir nichts ausprobieren, werden wir auch keine neuen Wege finden!“
Zurück zur Menschenkette. „Wo sind Notleidende?“ Das war und ist eine der Fragen, an der die beiden Priester immer wieder Maß nehmen. Und da war zunächst einmal das Asylantenheim mit den vielen Menschen, die dort unter
teilweise schwierigsten Bedingungen mitten in der Stadt und oft unbeachtet von den meisten Einheimischen leben. Hinzu kam die anstehende Firmvorbereitung: „Wir waren uns einig, dass wir dabei vor allem Räume schaffen wollten, in denen Jugendliche eine lebendige Erfahrung mit Jesus und seinem Evangelium machen konnten.“ Die Idee, eine Friedenskette mit Menschen der 88 in Kamen vertretenen Nationen rund um die Stadt zu stellen, reifte heran.
Weil sich in den Pfarrgemeinden kaum Jugendliche engagierten, mit denen Wacker die Idee weiter entwickeln konnte, suchte er sie sprichwörtlich auf der Straße. Eine, die in einem Café von der Idee erfuhr, war Lena. Die 17-jährige Gymnasiastin war sofort begeistert, und noch am selben Abend fuhr sie zusammen mit dem Pfarrer den Innenstadtring ab, „damit wir wussten, wie lang die Strecke war: 2,2 Kilometer.“
Recht schnell fand sich eine zehnköpfige Aktionscrew von jungen Leuten im Alter zwischen 17 und 23 Jahren zusammen. Was vorher nur eine vage Idee war, nahm schnell konkrete Formen an: „go4peace“ – mach dich auf für den Frieden – war geboren. Zehnmal trafen sie sich, je vier bis fünf Stunden, am Sonntagnachmittag. „Das ging ja noch,“ meint Lena, „am meisten haben wir unter der Woche gearbeitet.“
Meinolf Wacker war immer mitten drin, half mit kurzen Einstiegsimpulsen,
dass das Evangelium die Orientierungsmarke blieb, und teilte Mühen und Erfolge der Vorbereitung. So kristallisierten sich die vier Punkte ihres Aktions- und Lebensprogramms heraus, denn „Frieden bauen wir auf, wenn
wir wie Jesus keinen ausschließen und auf alle zugehen, wenn wir den ersten Schritt machen, die anderen lieben wie uns selbst und wenn wir immer lieben.“
In Zeitung und Radio informierte die Aktionscrew über „go-4peace“ und lud dazu ein, sich zu beteiligen.

Die Firmbewerber konnten sich aussuchen, wo sie mitmachen wollten: an dieser Aktion, bei einem Friedenscamp in Sarajevo oder einer Woche in Taizé.

Insgesamt haben sich über 70 Jugendliche zur Firmung angemeldet; 48 von ihnen waren bei der Friedenskette dabei und wollen weitermachen. Ihre Begeisterung lässt auch die skeptischeren Pfarrangehörigen nicht unberührt. Dazu trägt sicher auch bei, dass die Presse häufig berichtete. Bürgermeister Hermann Hupe sagte beim abschließenden Reflektionsgespräch mit der Aktionscrew sogar: „So wünsche ich mir die Kirche in unserer Stadt!“
Trotz aller Aufbruchstimmung bleiben Bernhard Nake und Meinolf Wacker nüchtern: „Es ist ein Versuch. Wir wissen nicht, wo er hinführt. Wichtig ist, mit Gott aufzubrechen, auch wenn der Weg noch unbekannt ist!“ Sie lassen offen, ob sie das auf die strukturelle, kirchliche Situation beziehen oder auf den eingeschlagenen Friedensweg.
Gabi Ballweg

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2009)
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