10. Oktober 2009

„Da wurden Felsbrocken weggeräumt“

Von nst_xy

Am Reformationstag, dem 31. Oktober 1999 haben in Augsburg Vertreter des Luthe­rischen Weltbundes und der katholischen Kirche die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet. In diesem Jahr begehen sie – wiederum in Augs­burg – das zehnjährige Jubiläum dieses Er­eignisses. In einem Exklusiv-­Interview mit der NEUEN STADT erklärt Kardinal Walter Kasper, Chef­-Ökumeniker des Papstes, was aus dieser Erklärung geworden ist.

Herr Kardinal, war – aus der Distanz von zehn Jahren betrachtet – die Rechtfertigungserklärung ein historisches Ereignis?
Kasper:
Nun, zehn Jahre sind in der Kirchengeschichte eine kurze Zeit. Aber trotzdem: Wenn man die Geschichte des 16. Jahrhunderts, der Reformation, studiert, merkt man: Die Rechtfertigungslehre war das zentrale Problem. Daran ist die Christenheit im Westen auseinander gebrochen, und das war eine Katastrophe. Dass wir nun in einer so wesentlichen Frage im Kern wieder eins sind, gemeinsam Zeugnis geben und zusammenarbeiten können, das ist wirklich ein historischer Durchbruch gewesen.

Was war das Besondere an dieser Erklärung?
Kasper:
Das war die gemeinsame Aussage, dass wir unsere Würde, unseren Wert als Menschen nicht selbst machen, sondern geschenkt bekommen, aus reiner Gnade. Das ist für das Selbstverständnis des Menschen eine ganz wichtige Aussage. Gerade wir hier im Westen meinen, wir könnten alles selbst machen, alles produzieren. Dagegen sagt die Lehre von der Rechtfertigung: Nein! Du musst natürlich auch selbst etwas tun, aber letztlich musst du es dir schenken lassen.
Und ein zweiter Punkt ist wichtig: Man darf den Wert eines Menschen nicht nur daran festmachen, was er leistet oder was er tut. Der Mensch hat einen Wert von einer ganz anderen Instanz her, nämlich von Gott.
Das sind keine theologischen Feinsinnigkeiten, sondern grundlegende Aussagen, die das Wesen des Menschen betreffen.

Papier ist geduldig, und Dokumente werden viele verfasst! Was hat die Rechtfertigungserklärung denn nun tatsächlich verändert?
Kasper:
Die Begegnung zwischen katholischen und lutherischen Christen hat eine neue Qualität bekommen, und das merkt man. Außerdem haben sich ja nachträglich noch die Methodisten der Erklärung angeschlossen, was das gemeinsame Fundament verbreitert hat. Darauf bauen wir auf. Bei großen Kongressen beispielsweise halten die Katholiken immer nach den Lutheranern Ausschau und umgekehrt.

Schon vor zehn Jahren war es mühsam, den Gläubigen – insbesondere den Katholiken – zu erklären, worum es bei der Rechtfertigungslehre überhaupt geht. Ist diese Erklärung an der Basis angekommen?
Kasper:
Das ist eine schwierige Frage. Das Wort „Rechtfertigung“ spielt im katholischen Katechismus und im Selbstverständnis eines Katholiken keine große Rolle. Wir haben andere Begriffe wie Erlösung oder Begnadung. Aber in den Begriffen darf es ruhig eine Vielfalt geben. Wichtig bleibt, dass wir große Stolpersteine, ja ich würde sagen: Felsbrocken, auf dem gemeinsamen Weg beiseite geräumt haben. Und was die Basis heute interessiert, ist die Frage: Wie macht ihr jetzt weiter? Da ist eine gewisse Unruhe zu spüren. Wir hoffen, dass wir bei der Jubiläumsfeier in Augsburg auch einen Schritt weitergehen. Wir sollen ja nicht nur zurückschauen, sondern auch nach vorn blicken.

Es gab und gibt, gerade auch auf evangelischer Seite, große Vorbehalte gegen dieses Dokument. Wie stehen Sie dazu?
Kasper:
Die Vorbehalte sind verschiedener Art. Unter den Professoren hat jeder seine eigene Interpretation der Dokumente des 16. Jahrhunderts, und in so einem Konsenspapier möchte jeder seine eigene Position wieder finden, was natürlich nicht möglich ist.
Nein! Die eigentlichen Schwierigkeiten sind zwei. Erstens: Wir haben in der Anthropologie, also im Verständnis des Menschen, leider zunehmend unterschiedliche Positionen in ethischen, moralischen Fragen; daran muss gearbeitet werden.
Und zum Zweiten: Wir müssen noch die Konsequenzen ziehen, die das Dokument für die Ekklesiologie, also die Lehre von der Kirche, hat. Daran hat man weiter gearbeitet, und in zehn Jahren ist auch vieles ge- schehen, sowohl auf der Ebene der Kirchenleitungen als auch an der so genannten Basis. Aber da sind noch Probleme zu bewältigen, und dementsprechend spürt man bei manchen eine gewisse Unzufriedenheit, weil wir nicht schnell genug vorangekommen sind.

Nicht ganz zu Unrecht! Vor zehn Jahren haben sich die Dialogpartner unter anderem verpflichtet, „die Lehre von der Kirche weiter zu bedenken“. Hat die katholische Kirche diese „Hausaufgabe“ erledigt?
Kasper:
Wir sind gemeinsam dieser Aufgabe nachgekommen; das kann ja nicht nur von katholischer Seite aus gehen. Es ist jetzt ein sehr umfangreiches Dokument zusammen mit dem Lutherischen Weltbund erschienen über die Apostolische Sukzession, also den zentralen Punkt, der uns unterscheidet. Da sind ganz schöne Schritte nach vorne gemacht worden. Und im Einheitsrat haben wir in den letzten zwei Jahren alle Dokumente mit den Anglikanern, Lutheranern, Reformierten und Methodisten aus 40 Jahren zusammengetragen und untersucht. Und ich muss gestehen: Obwohl ich meinte, ich wisse auf diesem Gebiet alles, war ich doch überrascht, wie viel geschehen ist – auch in der Lehre von der Kirche und den Sakramenten. Es gibt noch offene Probleme, die wir auch sehr klar benannt haben, aber es gibt doch auch viele Gemeinsamkeiten. Dieses Dokument, das rechtzeitig zu der Jubiläumsveranstaltung in Augsburg erscheinen soll, wird gewiss auch eine Ermutigung sein und ein Anstoß, weiterzumachen.

Gehörten die Dokumente „Dominus Iesus“ und die „Antworten auf Fragen zu einigen As­pekten bezüglich der Lehre über die Kirche“ auch zur Erledigung dieser Hausaufgabe?
Kasper:
Diese Texte haben Missmut ausgelöst, vielleicht auch, weil sie nicht sensibel genug formuliert waren. Das muss man zugeben. Aber es gehört zu einem Dialogprozess auch dazu, dass jede Seite ihre Position klarstellt. Und die beiden erwähnten Dokumente waren eine Klarstellung von Seiten der Glaubenskongregation über das Verhältnis der Kirche Jesu Christi zur katholi- schen Kirche. Das ist zunächst für viele vielleicht eine Überraschung oder gar ein Schock gewesen. Aber es dient der Klarheit, und die ist letztlich auch ein Beitrag zu Ökumene.

Dieses Gespräch findet im Rahmen eines Reno­vabis-Kongresses 1) über die Beziehung der katholi­schen Kirche zu den orthodoxen Kirchen statt. Ist der Eindruck richtig, dass sich Rom mit der Ökumene in Richtung Osten leichter tut und auch mehr dafür einsetzt?
Kasper:
Richtig ist, dass es mit den Ostkirchen relativ gut – wenn auch langsam – vorangeht. Wir können uns das aber nicht aussuchen. Dialog kann man nicht einfach planen und machen. Wenn es vorangeht, ist das immer auch ein Geschenk des Heiligen Geistes. Wir sind froh, glücklich und dankbar, dass es mit den Orthodoxen gut weitergeht.
Im katholisch-evangelischen Dialog ist im Augenblick ein wenig Sand im Getriebe, aber da kommen auch wieder bessere Stunden. Im Übrigen kann der Dialog mit den Ostkirchen auch positiv zurückwirken auf den westlichen Dialog. Auch wenn diese Dialoge verschieden sind, sind sie doch nicht völlig unabhängig voneinander.
Betonen möchte ich aber, das wir von unserer Seite keine Prioritäten setzen. Wir sagen nicht: Jetzt reden wir erst mal mit den Ostkirchen und lassen die anderen links liegen. Wir gehen in jedem Dialog so voran, wie es eben möglich ist und wie es uns geschenkt wird.

Was sind die Perspektiven und die nächsten Etappen im Gespräch mit den Kirchen der Reformation?
Kasper:
Auf der Grundlage des bereits erwähnten Dokuments werden wir im nächsten Frühjahr in Rom ein Symposium machen, wo wir mit unseren Partnern überlegen, wie es gemeinsam weitergehen kann.
Im nächsten Jahr wird der Lutherische Weltbund in Stuttgart feiern, dann ist der Ökumenische Kirchentag, die Luther-Dekade geht weiter, der Ökumenische Rat der Kirchen feiert 100 Jahre nach Edinburgh, wo die moderne ökumenische Bewegung begonnen hat. Also das Jahr 2010 wird wirklich ein ökumenisches Jahr, von dem wir uns einiges versprechen.

Herzlichen Dank, Herr Kardinal, für dieses Gespräch
Joachim Schwind

1) Renovabis ist die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa.

Kardinal Walter Kasper
(76) ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Nach seiner Priesterweihe (1957) habilitierte er sich im Fach Dogmatik und lehrte in Münster, Tübingen und Washington. 1989 wurde er Bischof von Rottenburg-Stuttgart, 1999 rief ihn Papst Johannes Paul II. an die römische Kurie. seit 2001 leitet er den Einheitsrat und ist darüber hinaus Mitglied in weiteren vatikanischen Gremien, unter anderem in der Glaubenskongregation und im Päpstlichen Rat für den interreligiösen Dialog.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2009)
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