8. November 2009

Alles konstruiert – und dennoch wahr?

Von nst_xy

Gedanken zur Wahrheit im Film

Ob das alles wirklich so war?“ Welcher Kinobesucher hat sich diese oder ähnliche Fragen nicht schon gestellt? Gerade nach historischen, dokumentarischen oder auch biografischen Filmen drängen sich Überlegungen zum „Wahrheitsgehalt“ der Darstellung geradezu auf.
Tatsächlich ist die Frage nach der Wahrheit im Film so alt wie das Kino selbst. Der Regisseur Jean-Luc Godard beantwortet sie in einem berühmten Zitat so: „Film ist Wahrheit – 24 mal in der Sekunde“.

Doch was genau ist diese „Wahrheit“? Wenn Wahrheit dabei gleichbedeutend mit Realität ist, kann man diese filmisch überhaupt erfassen? Hört Realität im Moment der Abbildung nicht auf, sie selbst zu sein?

Gaukelt man den Zuschauern durch die Illusion einer Realität nicht eine Wahrheit vor, die nur gelogen sein kann? Schließlich kann der Blick der Kamera auf die Realität immer nur beschränkt sein.
Bis zum Beginn der 1960er Jahre tat man im Dokumentarfilm alles, damit der Portraitierte die Kamera möglichst ganz vergessen sollte. Man war der Meinung, dass er sich dann am natürlichsten verhalte, und man der Wahrheit so am nächsten käme. Mit dem Beginn des „Cinéma vérité“ kam dann in Frankreich eine neue Bewegung innerhalb des Dokumentarfilms auf: Wenn man die Kamera auf einen bloßen Beobachter reduziere – so die These – entferne man sich doch genau wieder von der Wahrheit. Also setzte man die Kamera ganz bewusst wie eine Person im Geschehen ein. In der Tat löst diese Vorgehensweise die Distanz zwischen Zuschauer und Gezeigtem auf.
Auch in Spielfilmen versuchen Regisseure normalerweise mit jedem Augenblick zu vertuschen, dass eine Kamera und dahinter nicht selten über 60 Crewmitglieder existieren. Nur selten wird dieses Muster durchbrochen. In dem Film „Funny Games“ (1997) etwa, in dem zwei Jugendliche eine Familie gefangen nehmen und sie anscheinend ohne jegliches Motiv zu Tode quälen, lässt der Regisseur Michael Haneke einen den Mörder direkt zum Zuschauer sprechen und macht ihn so zum Mitwisser.
In „Keine Lieder über Liebe“ (2005) spielt Jürgen Vogel einen Sänger, der mit seiner Band auf Tournee geht. Er wird begleitet von seinem Bruder, einem angehenden Regisseur, und dessen Kamera. Die Schauspieler spielen zwar eine Rolle, aber alles um sie herum – die Band, die Tournee, das Publikum und die Begegnungen mit anderen Menschen – ist echt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen.
Ist diese Realität jedoch die Wahrheit von der Godard spricht? Können Dokumentarfilme, können fiktionale Filme wahr sein? Der dänische Regisseur Christoffer Boe gibt darauf am Anfang seines Liebes-Dramas „Reconstruction“ (2003) seine ganz eigene Antwort: „Es ist nur Film, es ist alles konstruiert – aber dennoch tut es weh!“, lässt er eine sonore Stimme aus dem Off sagen. Und die Botschaft ist klar: Jeder Film ist konstruiert; was ist jedoch mit den Gefühlen, die der Zuschauer beim Anschauen hat? Sind die etwa nicht wahr?
Tobias Greber

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2009)
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