8. November 2009

Es ging um die Wahrheit!

Von nst_xy

Vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer. Der Fernsehkorrespondent Joachim Jauer war Augenzeuge der ersten Risse im Eisernen Vorhang und der großen Fluchtbewegung aus der DDR.

Herr Jauer, Sie haben das Wendejahr 1989 als ZDF-Korrespondent in Osteuropa erlebt. Welche Bilder haben Sie davon heute vor Augen?
Jauer:
Eine der wichtigsten Szenen war für mich der frühe Morgen des 2. Mai 1989 in Hegyeshalom, einem ungarischen Grenzort zwischen Budapest und Wien. Wir, einige internationale Korrespondenten, waren am Vorabend dorthin eingeladen worden. In einer Volksschule saß die Spitze des Ungarischen Militärs und erklärte uns, dass der Stacheldraht an der Grenze durchgerostet sei, und sie kein Geld hätten, ihn zu reparieren. Deswegen würde die Grenzanlage abgerissen. Die Bevölkerung sei aufgerufen, mit zu helfen. Auf meine Frage, ob das mit der DDR abgestimmt sei, sagte mir der Offizier, dass es sich um eine innere Angelegenheit Ungarns handle. Wir wurden dann in Militärfahrzeugen an die Grenze gefahren. Es regnete leicht. Plötzlich kamen zwei, drei LKW angefahren, Soldaten sprangen ab. Sie hatten Schutzhandschuhe an und große Bolzenschneider in der Hand, keine Maschinenpistolen. Auf das Kommando „Elöre – Vorwärts“ fingen sie an, den Eisernen Vorhang aufzuschneiden.
Damit wurde der erste Stein in der Mauer entfernt und die gesamte spätere Revolution ausgelöst.

Gab es auch vor 1989 entscheidende Szenen?
Jauer:
Sicher! Da ist vor allem der erste Besuch des polnischen Papstes in Warschau. Johannes Paul II. war im Oktober 1978 gewählt worden und hatte als erstes verkündet: „Habt keine Angst! Öffnet die Grenzen der Staaten und Gesellschaftsordnungen für die Freiheit.“ Ein halbes Jahr später war er bereits in Warschau. Diese erste Pilgerreise verursachte der Partei unglaubliche Bauchschmerzen. Sie hat versucht, ihm politische Äußerungen zu untersagen, was ihn aber überhaupt nicht gestört hat. Am Pfingstsamstag sagte er auf dem Siegesplatz vor einer halben Million Menschen: „Der Geist Gottes erneuere das Antlitz dieser Erde.“ Dann nahm er seinen Hirtenstab, stampfte auf den Boden und unterstrich: „Dieser Erde hier!“, wobei das Wort „Ziemia“ auf polnisch nicht nur Erde, sondern auch Land bedeutet.
Am nächsten Tag stimmte er dann die Nationalhymne an („Noch ist Polen nicht verloren“) und sagte, er werde „das Wohl Polens auch weiterhin als das seine betrachten“, sich also einmischen. Und das in einem Staat, für den die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eine absolut heilige Kuh war! In Ihrem Buch „urbi et Gorbi“1) schreiben Sie, Christen seien Wegbereiter der Wende gewesen.

Hätte sie sonst nicht stattgefunden?
Jauer:
Das vermag ich nicht zu sagen. Sicher ist jedoch: An allen Stellschrauben dieser Revolution waren Christen aktiv beteiligt.
In Polen war es die „Solidarnosc“: Diese erste freie unabhängige Gewerkschaft im kommunistischen Machtbereich lebte durch die Unterstützung der katholischen Kirche und ihren Fürsprecher Johannes Paul II. aus Rom.
In der DDR hatte die evangelische Kirche – bei allen Problemen, die es sicher auch gegeben hat – seit Mitte der 70er Jahre mit dem Motto „offen für alle“ die Kirchentür für die Mühseligen und Beladenen des Regimes aufgemacht, für Menschen, die sich sonst nirgendwo versammeln konnten. Außerdem hat die evangelische Kirche auf ihren Synoden den Klage- und Mängelkatalog des DDR-Alltags öffentlich ausgesprochen, auch so wichtige Tabuthemen wie Militarisierung der Jugend, Erziehung zum Hass, Ausreiseproblematik. Und auf den Synoden wurde diskutiert und abgestimmt. Es gab Kandidaten, die gegeneinander antraten. Damit wurde mitten in der DDR Demokratie geübt.
Auf dem Wenzelsplatz in Prag moderierte der Untergrundpriester Václav Maly an der Seite von Václav Havel die Massendemonstrationen. Als am achten Tag der so genannten „samtenen Revolution“ zwei Polizisten für die Prügeleinsätze gegen Demonstranten um Vergebung baten, sagte Maly: „Wenn jemand um Vergebung bittet, muss man ihm vergeben.“ Dann schlug er vor, das ‚Vaterunser’ zu beten. Das tschechische Fernsehen, damals noch kommunistisch beaufsichtigt, übertrug diese Kundgebung im ganzen Land. Am nächsten Tag war fast die Hälfte der Bevölkerung im Generalstreik.
In Rumänien hat Pastor Lászlò Tökés die Revolution ausgelöst. Der evangelische Pfarrer in Timisoara hatte sich in mehreren Predigten gegen Ceausescu gewandt und die Menschenrechte eingeklagt. Dafür wurde er Mitte Dezember 1989 verhaftet. Der rumänische Geheimdienst ‚Securitate’ schoss dann in die Menschenkette, die seine Gemeinde um die Kirche gebildet hatte. Es gab 72 Tote. Eine Woche später war der Aufstand bis nach Bukarest gekommen und Ceausescu wurde gestürzt.
Die deutsch-ungarische Malteserfrau Csilla von Boeselager hat in Budapest auf dem Gelände der katholischen Pfarrei „Zur Heiligen Familie“ gemeinsam mit dem Priester Imre Kozma einen Zufluchtsort für potentielle Flüchtlinge geschaffen, als niemand mehr wusste, wohin mit den vielen Rucksacktouristen aus der DDR. Erst dieser Massenexodus hat schließlich die Demonstrationen in der DDR bewirkt.
Insofern waren Christen überall Anstifter der Revolution.

Gab es Verbindungen zu nicht christlichen Oppositionellen?
Jauer:
Die christlichen Initiativen waren an keiner Stelle organisiert; es waren persönliche Initiativen. Natürlich gab es gewisse Verbindungen zu oppositionellen Gruppen.
In der damaligen CSSR war Václav Maly Sprecher der „Charta 77“, die kritische Kommunisten, Kirchenleute, Sozialisten und Menschenrechtler vereinte.
In Polen waren 95 Prozent der Bevölkerung katholisch, so dass in der Solidarnosc im wesentlichen Katholiken vereint waren. In Ungarn gab es eine Art Bürgerinitiative „Für die historische Wahrheit“, die die Wahrheit über die Zerschlagung der Freiheitsbewegung von 1956 aufdecken wollte.

Wahrheit ist ein wichtiges Stichwort.
Jauer:
Auf jeden Fall! Alle Revolutionsbewegungen damals wollten die historische Wahrheit aufdecken; die Solidarnosc beispielsweise die Wahrheit über die Tötung von 47 Arbeitern in der Danziger Leninwerft 1970.
Auch der polnische Papst Johannes Paul II. war mit dem Vorsatz „Wandel durch Wahrheit“ angetreten. Jahre später traf er auf den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow mit seinem Programm:„Glasnost und Perestroika“, das man im allgemeinen übersetzt mit „Offenheit und Umbau“, das aber auch mit „Wahrheit und Wandel“ übersetzt werden kann. Diese beiden Programme waren nicht deckungsgleich, aber es gab Schnittmengen. Das Zusammentreffen dieser beiden Persönlichkeiten kann man als Sternstunde der Menschheit bezeichnen: Der eine – Papst Johannes Paul II. – hat die Wende angestoßen, der andere – Michail Gorbatschow – hat sie zugelassen.

Zulassen ist wieder ein Stichwort. Warum haben die Parteiführungen nicht eingegriffen?
Jauer:
Die Gefahr bestand! Und am meisten haben sicherlich die Ungarn riskiert, die sich mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs gegen Verabredungen des gesamten Warschauer Paktes gestellt haben. Der damalige Ministerpräsident Miklos Neméth legt bis heute Wert darauf, den sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow nicht um Genehmigung gefragt, sondern nur informiert zu haben. Trotzdem hätten reaktionäre Kräfte im Kreml sich noch gegen die Politik Gorbatschows stellen können.
Die Polen hatten ihr Risiko, indem sie die ersten bedingt freien Wahlen am Runden Tisch erkämpften. Auch da hat Gorbatschow nicht eingegriffen. Als sich die Lage in der DDR zuspitzte, war bereits das entsetzliche Eingreifen der chinesischen Armee auf dem Platz des himmlischen Friedens bekannt. Warum die SED den Schießbefehl nicht erteilt hat, bleibt dennoch ein Rätsel! Möglicherweise ahnten die Genossen nach den Ereignissen in Polen und Ungarn, dass die Russen ihnen nicht helfen würden. Dann war Erich Honecker seit Juni 1989 schwer krank. Das Politbüro war komplett auf ihn zugeschnitten und nun entscheidungsunfähig. Der einzige, der das Problem überblickte, war Erich Mielke mit der Staatssicherheit. Aber eingegriffen hat auch sie nicht. Die dritte Komponente war sicher die Tatsache, dass die Einsatzkräfte in ihrer ideologischen Verblendung mit Leuten rechneten, die anfangen zu schießen. Der Gegner aber kam mit Kerzen in der Hand und sang. Und wer in der rechten Hand eine brennende Kerze hält, muss sie mit der linken Hand schützen, damit sie nicht ausgeht. Er hat also keine Hand frei, um einen Stein zu werfen. Die Gewaltlosigkeit hat das Regime völlig verunsichert.

Was möchten Sie den Generationen mit auf den Weg geben, die die Ereignisse damals nicht miterlebt haben?
Jauer:
Die Suche nach Wahrheit! Sie war die Triebfeder von allem. Und die brauchen wir auch jetzt! Gerade weil wir eine Debatte darüber erleben, ob die DDR ein Unrechtsstaat war oder nicht. Auch wenn es den Begriff Unrechtsstaat nicht gibt, ein Rechtsstaat war sie in gar keinem Fall. Die Verniedlichung und Verharmlosung der damaligen Situation ist landauf, landab zu bemerken. Deshalb plädiere ich für ein großflächiges, breites Bemühen, über das Unrechtsystem dieser Diktatur aufzuklären.
Vielen Dank, Herr Jauer, für dieses interessante Gespräch.
Gabi Ballweg

1) Joachim Jauer, Urbi et Gorbi, Christen als Wegbereiter der Wende. Freiburg im Breisgau 2008.

Joachim Jauer
Jahrgang 1940, war lange Jahre als Korrespondent des ZDF in der DDR und moderierte die Sendung „Kennzeichen D“. Als Sonderkorrespondent war er von 1987 bis 1990 für Mittel- und Osteuropa zuständig und leitete zuletzt das ZdF-Studio Berlin.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2009)
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