8. November 2009

Kleiner Grenzverkehr

Von nst_xy

So geht es nun aber wirklich nicht!“ – „Bis hierher und nicht weiter!“ – „Irgendwo muss einmal Schluss sein!“ – „Irgendwann ist bei jedem die Grenze erreicht!“
Es gibt Momente, da kann man nicht anders, als Pflöcke einschlagen, Grenzen ziehen, Zäune und Mauern errichten. Man droht, sich selbst zu verlieren, weil man immer nur über sich hinausgeht oder aber viel zu viel an sich heranlässt. In beiden Fällen gerät die eigene Mitte leicht aus dem Blick, und am Ende weiß man womöglich nicht mehr, wer man eigentlich ist und wo man hingehört.
Als Menschen, aber auch als Gruppen, Vereinigungen, Nationen oder Verbände müssen wir uns gelegentlich mit unseren Grenzen befassen. Es ist immer wieder einmal wichtig, zu wissen, wo sie sind. Und hier und da kann es auch notwendig sein, sie nach außen hin deutlich zu machen und zu schützen. In der nötigen Ruhe und Gelassenheit können wir dann zu unserer Mitte zurückkehren, zu unserer Identität zurückfinden und uns selbst neu verstehen. In der Regel merken wir dann aber schnell, dass die Grenzziehung schon wieder überflüssig ist. Denn wer sich seiner Mitte bewusst ist, muss sich nicht wirklich abgrenzen.
Gefährlich wird es, wenn die Grenzziehung zum Selbstzweck wird und die eigentliche Beschäftigung mit der Mitte ersetzt. Die Versuchung dazu ist groß. „Die Extreme sind einfach, lediglich die Mitte ist ein Rätsel.“ Dieser Satz, mit dem Herbert Lauenroth in seinem Beitrag zum 20. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer die amerikanische Lyrikerin Louise Glück zitiert, geht mir nicht mehr aus dem Sinn. Es ist in der Tat viel leichter und einfacher, sich abzugrenzen, Feindbilder zu zeichnen und Gegnerschaften zu pflegen, als sich mit der eigenen Identität auseinanderzusetzen. Die Berliner Mauer, der Eiserne Vorhang waren dafür schmerzliche Beispiele.
Sich nicht auf die Grenzen konzentrieren, sondern die Mitte suchen und stärken!, würde also die Konsequenz lauten. Eine Reihe von Beiträgen in dieser Ausgabe der NEUEN STADT haben meine Aufmerksamkeit jedoch noch auf eine andere mögliche Vorgehensweise gelenkt: den kleinen Grenzverkehr. Das bedeutet: An die Grenze gehen, an der Grenze verharren und dann einen Austausch von Gütern praktizieren; an der Grenze ein Geben und Nehmen pflegen.
Die Gartengestalterin Christa Janßen pflegt diesen Grenzverkehr, wenn sie sich den Vorstellungen ihrer Kunden ganz öffnet und aus dem Hinhören auf deren Wünsche und dem Einbringen ihrer Erfahrung etwas gestaltet, was beide Seiten ganz als das Ihre empfinden.
Die „Glaubensbegleiter“ in der Ruhrgebietsstadt Herten erleben diesen Austausch, wenn sie ihre eigenen Glaubensfragen im Gespräch mit Sinn suchenden Menschen nicht außen vor lassen.
Und die Helfer in den überschwemmten Katastrophengebieten des Großraums Manila erfahren das, wenn sie nicht nur Hilfspakete abliefern, sondern hören und aufnehmen, was die Opfer bewegt.
Das Erstaunliche am „kleinen Grenzverkehr“ ist: Es werden nicht nur die Grenzen durchlässig. Während man noch am Rand die Güter austauscht, gestaltet sich die Mitte neu und wird klarer und greifbarer. Wie bei dem jugendlichen Katastrophenhelfer auf den Philippinen, der durch den Hilfseinsatz erkennt, dass er in seinem Leben „eine ganze Menge in Ordnung bringen“ muss.
Ihr
Joachim Schwind

„Wollen wir eine Brücke schlagen von Mensch zu Mensch – und das gilt auch von einer Brücke des Erkennens und Verstehens –, so müssen die Brückenköpfe eben nicht die Köpfe, sondern die Herzen sein.“
Viktor E. Frankl

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2009)
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