8. November 2009

Grenzwertig

Von nst_xy

Gedanken zu einem Jahrestag

“Die deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor geschlossen ist”, formulierte einst Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Blick auf das geteilte Berlin. Hat sich mit der Öffnung der Grenzen, dem Fall der Berliner Mauer, nun tatsächlich auch die – nicht nur deutsche – Frage nach Freiheit und unteilbarer Identität erledigt?
Wohl eher nicht. Vielmehr konnte man in den letzte zwei Jahrzehnten beobachten, wie sich die Mauer als Symbol einer vormals äußerlich sichtbaren Grenze nach innen verlagerte und dort neu aufgerichtet hat: als „Mauer in den Herzen und Köpfen“ vieler Menschen. Diese Mauer steht für radikalen Rückzug und Selbstschutz, eine zur Festung ausgebaute „Seelenburg“, die andere – buchstäblich – ausgrenzt.
Die starken Bilder der Mystiker – etwa das berühmte „Castillo interior“ bei Teresa von Avila – gerinnen in dieser vom Verlust äußerer Grenzen und Unterscheidungen gezeichneten Welt zu Schwundformen einer Innerlichkeit, einer nur teilweise bewussten oder eingestandenen „Einfluss-Angst“ (Harold Bloom) vor dem Fremden, zu diffusen Ängsten und Befürchtungen, die an die Stelle eines Respekts vor der unverfügbaren, unberechenbaren Gegenwart des Anderen getreten sind. Und diese Tendenzen der Selbsteinschließung finden ihre Illustration etwa in der sicherheitspolitischen Rede von der „Festung Europa“, den ominösen „Parallelgesellschaften“ oder den sorgsam gesicherten und abgeschotteten Wohlstandsarealen der „gated communities“ in den modernen Metropolen.
Dagegen gilt es in dieser vermeintlich durchlässig gewordenen Welt erneut an die Bedeutung der Grenze, bestimmter Grenz-Erfahrungen, also „Grenzübergänge“ zu erinnern, gerade im Rückblick auf den 9. November 1989, jenem in seiner Bedeutung wohl kaum zu überschätzenden, exemplarischen Datum, da die Berliner Mauer fiel. „Die höchst unterschiedlichen Beiträge, die in diesem Band aufeinandertreffen“, bemerkt die Autorin Julia Franck im Vorwort zu der von ihr aus Anlass des 20. Jahrestages herausgegebenen Textsammlung „Grenzübergänge“, „öffnen jenen Raum, die Grenze – den Grenzraum, der trennend wirken sollte und zu dem doch beide Seiten gehören.

Im Dazwischen, auf der Schwelle, hier befindet sich die Grenze; ihre Überwindung wie ihre Öffnung liegt im Erzählen.“

Im literarischen wie geschichtlich bedeutsamen, erinnernden Erzählen erscheint die deutsch-deutsche Grenze als poetisch produktiver Zwischenraum, in dem Hier und Dort, Nicht-mehr und Noch-nicht, Erfahrung und Verheißung, Herkunft und Zukunft, Eigenes und Fremdes einander berühren und durchlässig werden füreinander.
Gerade weil die großen, machtpolitisch und ideologisch gezogenen Grenzen kaum noch von Gewicht sind, kann nun der Blick frei werden für eine Dynamik der zahllosen Gesten: jener Gesten alltäglicher und immer neuer, gutnachbarschaftlicher Grenzziehungen, die in den verschiedenen Lebensbereichen eigene und fremde Ansprüche aneinander fruchtbar werden lassen. Ohne diese Spielarten eines „kleinen Grenzverkehrs“ liefe die westliche Zivilgesellschaft vielleicht Gefahr, ihrem eigenen Pathos der „offenen Grenzen“ zu erliegen und schließlich von jenen Extrembildungen beherrscht zu werden, die sie doch gerade in ihre Grenzen zu weisen hätte.
„Die Extreme sind einfach“, heißt es bei der amerikanischen Lyrikerin Louise Glück, „lediglich die Mitte ist ein Rätsel“. Schöner und prägnanter lässt sich wohl kaum über dieses Mysterium der Mitte sprechen: Hier gründet das Geheimnis der Grenze.
Herbert Lauenroth

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2009)
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