10. Dezember 2009

Mehr Sprachkriege als Religionskriege

Von nst_xy

Kulturell bedingte Konflikte haben in den vergangenen 25 Jahren zugenommen. Das belegt eine Studie der Bertelsmann Stiftung. Welchen Einfluss Kultur und kulturelle Aspekte wie Sprache, Religion und kulturelle Identität auf das Entstehen und den Verlauf von Konflikten haben, erklärt der Freiburger Politikwissenschaftler Uwe Wagschal.

Herr Wagschal, Sie haben in einer Studie alle Konflikte seit 1945 untersucht. Wie viele waren das denn?
Wagschal: 762. Dabei haben wir auf eine Datenbank an der Universität Heidelberg zurückgegriffen, in der alle Kriege und Auseinandersetzungen  weltweit seit 1945 erfasst sind. Wir sind von verschiedenen Konfliktstufen ausgegangen – je nach Art der Kommunikation oder der Gewalt und auch nach der Zahl der Toten, die es in dem Konflikt gab. Die fünf Eskalationsstufen reichen vom Krieg im klassischen Sinn über kleinere Konflikte mit Toten bis hin zu Konflikten, bei denen es zwar keine Toten gab, aber beispielsweise Protestnoten entsandt oder Boschafter einbestellt wurden.

Heraus kam, dass Konflikte zugenommen haben, in denen Kultur eine Rolle spielt.
Wagschal: So ist es! Die Zahl der kulturellen Konflikte, also jener Auseinandersetzungen, bei denen Kultur Thema ist oder Sprache, Religion und  kulturelle Identität wichtig sind, ist deutlich gestiegen. Und das vor allem nach 1990! Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks kamen Konflikte zum Ausbruch, die vorher schon schwelten, aber im Kalten Krieg still gehalten wurden. Beispiele dafür sind die Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien oder im südlichen Kaukasus, die religiöse oder ethnische Gründe hatten.

Bestätigt das die These vom „Zusammenprall der Kulturen“?
Wagschal:
Nicht ganz. In den 90er Jahren war der Amerikaner Samuel Huntington davon ausgegangen, dass es acht große Kulturkreise gibt, und diese sich immer mehr bekämpfen würden. Den „Zusammenprall der Kulturen“ bezog er vor allem auf den Islam und die Länder des Westens. Die Studie belegt zwar, dass Kulturkonflikte an Bedeutung zunehmen. Aber sie zeigt auch, dass es sich dabei vor allem um Konflikte innerhalb einzelner Länder handelt und nicht um Konflikte zwischen verschiedenen Ländern, wie Huntington das angenommen hatte.

Und welche Rolle spielt Religion in Konflikten?
Wagschal:
Eine unserer Ausgangsthesen lautete: Je höher die religiöse Zersplitterung einer Gesellschaft ist, desto mehr Konflikte gibt es. Tatsächlich hat sich dies nicht bestätigt. Generell sind homogene Gesellschaften – also Länder, in denen es nur eine vorherrschende Religion gibt – relativ stabiler. Aber es überrascht, dass auch in religiös besonders stark aufgesplitterten Gesellschaften vergleichsweise wenig Konflikte festzustellen sind. Wo es viele kleine religiöse Gruppen gibt, scheint sich also das Konfliktpotential zu neutralisieren. Problematisch sind hingegen jene Gesellschaften, in denen es wenige, gleich große religiöse Gruppen gibt, die um eine Vorherrschaft kämpfen, wie zum Beispiel im Libanon. In solchen Gesellschaften ist das Risiko besonders groß, dass sich der religiöse Machtkampf in Gewalt entlädt. Außerdem – aber das ist schon länger bekannt – hat sich gezeigt, dass religiöse Konflikte im Allgemeinen gewaltintensiv verlaufen.

Welcher kulturelle Faktor hat denn eine besondere Bedeutung in Konflikten?
Wagschal:
Die Sprache. Und das ist überraschend! Sprache ist bedeutsamer als die religiöse Zersplitterung. Je größer die sprachliche Vielfalt, desto höher die Wahrscheinlichkeit für einen Konflikt innerhalb eines Landes oder auch zwischen Staaten. Dabei muss man allerdings unterstreichen, dass die kulturellen Faktoren nie allein einen Konflikt und das gesamte Konfliktgeschehen erklären. Verschiedene andere Faktoren spielen eine Rolle. Je größer etwa ein Land ist, desto mehr Konflikte gibt es. In einem großen Land gibt es aber auch eher regionale, sprachliche, religiöse und  wirtschaftliche Differenzen. Die Wahrscheinlichkeit zur sprachlichen Zersplitterung steigt also in einem großen Land, aber es kann auch mehr wirtschaftliche oder ethnische Unterschiede geben. Ein anderer Aspekt ist das Wohlstandsniveau eines Landes: Je reicher ein Land ist, desto weniger Konflikte gibt es. Dann gibt es – vor allem in Afrika – sehr viel Streit um nutzbare Landflächen. Dabei geht es um die Sicherung des Lebensunterhalts und damit um Ressourcenkonflikte, die sich unter Umständen mit kulturellen Faktoren vermischen. Kultur ist also ein Faktor unter mehreren. Zu sagen, Kultur oder auch Religion spiele in einem ökonomischen oder politischen Konflikt keine Rolle, wäre oft auch falsch. So können sich kulturelle Konflikte im Zusammenwirken mit anderen, nichtkulturellen Faktoren sogar noch verschärfen.

Welche anderen Faktoren wären das?
Wagschal:
Besonders herausragend ist der so genannte „youth bulge“: Je höher der Anteil junger Männer in einer Gesellschaft ist, desto eher gibt es Konflikte, weil sie tendenziell schneller gewalttätig werden als andereGruppen. Wenn das mit religiösen Faktoren zusammenkommt, kann daraus ein gefährliches Konfliktpotential werden. Eine große Zahl an jungen Männern in einer Gesellschaft wird vor allem dann zu einem Problem, wenn das Land die Wohlstandsschwelle übersprungen hat. In Ländern, die unter dem Armutsniveau leben, gibt es zwar auch hohe Geburtenraten, aber der “Überschuss” an jungen Männern ist dort nicht so problematisch wie in jenen Ländern, die auch ein höheres Sozialprodukt und Bildungsniveau haben. Die jungen Männer wollen dann ihre gesellschaftlichen Chancen wahrnehmen, eine Familie gründen, ein festes Einkommen haben, und wenn sie dafür keine Chancen sehen, wird das gefährlich. Manche Länder reagieren gezielt auf dieses Problem. In Ägypten beispielsweise werden Beamtenstellen geteilt, so dass zwei junge Männer jeweils eine halbe Stelle bekommen.

Sie sprachen anfangs davon, dass auch die kulturelle Identität eine Rolle spielt.
Wagschal:
Identitätskonflikte spielen vor allem in Asien eine Rolle. Wir kennen sie aber auch aus Mitteleuropa, etwa den Sprachenstreit in Belgien, der teilweise auch ein Identitätskonflikt ist, weil es um tief verwurzelte historische Differenzen geht. Oder Nordirland: Auf den ersten Blick scheint Religion eine Rolle zu spielen, in gewissem Maß auch die Sprache. Aber im Grunde geht es um einen historischen Konflikt, um kulturelle Werte. Identität ist dabei das Selbstverständnis über die eigene Herkunft, die von Symbolen, Werten und Normen abhängig sein kann. Dies kann entscheidend für die Wahrnehmung von Konflikten sein. Oft geht es darum, dass man seine kulturellen Werte, seine Traditionen, Feste, die eigene Sprache, die kulturellen Eigenarten auch leben und ausüben darf.

Was bedeuten die Ergebnisse Ihrer Studie für Fragen der Integration von Zuwanderern in Europa?
Wagschal:
In Deutschland werden in diesem Zusammenhang oft Konflikte in Berlin und anderen Großstädten genannt, wenn junge Ausländer gewalttätig werden. Ich bezweifle jedoch, dass es dabei um einen kulturellen Hintergrund geht. Es handelt sich meist um Stadtteile, in denen es
auch eine hohe Geburtenrate gibt und damit eine Art lokalen „youth bulge“, der gepaart mit sozialen Problemen auftritt. Deshalb ist es wohl mehr ein sozialer Konflikt, bei dem nur die Oberfläche gesehen wird, wie etwa die andere Religion. Sicher haben Menschen mit muslimischem Hintergrund oftmals auch eine andere kulturelle Identität – und vielleicht manchmal auch andere Werte. Was müssen wir aus den Ergebnissen lernen? Uns
genau diesen Gruppen zuzuwenden! Wir müssen uns stärker mit diesen Gruppen beschäftigen und mehr Anreize geben zur Integration. Eine verbindliche Kindergartenzeit wäre eine Option. Dann würden die Kinder die Sprache besser lernen. Wenn man miteinander kommunizieren kann, ist das Konfliktpotential geringer.

Wie wird sich das Konfliktgeschehen in der Zukunft entwickeln?
Wagschal:
Dafür müsste man alle Faktoren durchspielen. Demokratie beispielsweise hemmt Konflikte, und wenn die Demokratisierung weltweit fortschreitet, wird es weniger Konflikte geben. Wenn andererseits die ökonomische Ungleichverteilung zunimmt, nehmen auch Konflikte wieder zu. So sind beispielsweise in der wirtschaftlichen Krise im vergangenen Jahr etwa in Afrika neue Konflikte ausgebrochen, alte intensivierten sich. Insgesamt meine ich, dass es mittelfristig erst einmal mehr Konflikte geben wird. Das liegt auch daran, dass der Anteil der jungen Männer bezogen auf die Weltbevölkerung zunehmen wird. Dass die Welt auf einem eindeutigen Pfad zu mehr Frieden ist, kann man nach den Ergebnissen der Studie leider nicht sehen.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

Uwe Wagschal
Jahrgang 1966, ist seit september 2009 professor für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Freiburg. Davor war er mehrere Jahre Professor an den Universitäten Heidelberg und München. Er hat zusammen mit Kollegen die von der Bertelsmann Stiftung veröffentlichte Konfliktstudie durchgeführt. Besonderer Schwerpunkt der Studie war der Zusammenhang von kulturellen Faktoren und Konfliktgeschehen.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2009)
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