10. Januar 2010

Mit sich befreundet sein

Von nst_xy

Zum Boom der „Lebenskunst“

Mit sich befreundet sein“ beschreibt das Ziel einer „Lebenskunst“, die in den letzten Jahren zu boomen begann. Die verführerische Formulierung geht auf Wilhelm Schmid zurück. Der Philosoph versteht sich als Lehrmeister, Sinn- und Anstifter zum wahren Leben des in seiner individuellen Bedürftigkeit gewürdigten Menschen. Es geht dabei um den Sinn eines Lebens, das von Senecas stoischer Zuversicht, über Michel de Montaignes Philosophie der Freundschaft bis hin zu Michel Foucaults Analysen einer von der Antike auf die Moderne überkommenen „Selbsttechnik“ reicht und in seiner Erfahrung der Begrenztheit und Widersprüchlichkeit befriedet und entsprechend friedvoll ist, also – modisch gesprochen – gelingt.

Der Weg zum gelingenden Leben ist bei diesen Entwürfen zumeist im Königsweg zum Ich vorgezeichnet. Es geht darum, „bei sich anzukommen“, es geht um „Selbstmanagement“ des Subjekts, das in sich die Antwort auf jene bedrängende Frage zu finden hat, die Richard David Precht, der smarte Surfer auf den Wellen des Zeitgeistes, so leichtfüßig zur Sprache brachte: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“

Im Freitod eines Prominenten wie dem des deutschen Nationaltorhüters Robert Enke wird deutlich, dass der Einzelne an dieser Herausforderung auch zerbrechen kann. Hier ist einer, der die Lebens-Kunst des Fußballs beispielgebend beherrschte, einer schamhaft verborgenen (Volks-)Krankheit zum Tode schließlich doch erlegen. Und zeitgleich feiert Stephenie Meyers „Twilight“-Saga“ in der bizarren Romanze zwischen der selbstmörderisch liebenden Bella und dem dandyhaften Vampir Edward den blutsaugerischen Triumph einer Todessehnsucht über das ungelebte, ungeliebte Geschenk des Lebens.
„Du musst Dein Leben ändern!“, hält ein unverdrossen turnväterlich disponierter Peter Sloterdijk dagegen. Statt Weinerlichkeit oder Weicheierei gilt: Üben, üben, üben! Das versehrte Ich wird zum trainierenden und dadurch athletischen Subjekt. Philosophie gilt Sloterdijk als Lebenskunst, die eine physisch wie psychisch optimierte Bewegungsfreiheit in Aussicht stellt. Man gewinnt eine Vorstellung von dem, was Sloterdijk meint, wenn man etwa im Internet (auf Youtube) den Pas de deux der einarmigen chinesischen Ballerina Ma Li und ihres beinamputierten Partners Zhai Xiaowei verfolgt. Die Anmut des Paares entfaltet sich aus der poetischen Ingebrauchnahme der Krücke, an der die beiden Tänzer ihre vom Leben gezeichneten, begnadeten Körper zu einem gleichsam schwerelosen In- und Zueinander choreografieren.

Doch die Frage, mit der jede Reflexion zu einer Lebenskunst anhebt, bleibt von all dem unberührt: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“

Dietrich Bonhoeffer hat sie in seinen Aufzeichnungen aus der Haft zu ihrer vielleicht entscheidenden Tiefe gebracht: „Wer bin ich? – Sie sagen mir oft, ich träte aus meiner Zelle wie ein Gutsherr aus seinem Schloss, ich spräche mit meinen Bewachern, als hätte ich zu gebieten. – Bin ich das wirklich? Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß? Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig. – Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“
Ist das nicht das Bekenntnis eines aufrichtigen Lebenskünstlers, der ein anderes Leben, das Leben eines anderen in sich spürt und im Nachsinnen über das eigene Ich zu dem durchstößt, der von sich sagte: „Ich bin – das Leben“? Und der auf diese Weise erneut an die Lebendigkeit eines Gottes und den göttlichen Ursprung des – eigenen – Lebens herangeführt wird? Der also wahrhaft mit sich befreundet ist? Wohl erst mit dieser Erfahrung einer menschlich-göttlichen Freundschaft beginnt jene wahre Lebenskunst, die endlich stärker wäre als der Tod.
Herbert Lauenroth

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2010)
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