10. März 2010

Mut, Demut und Langmut

Von nst_xy

Am 22. Januar erhielt der ehemalige Bischof von Oppeln, Alfons Nossol, im Aachener Dom den Klaus-Hemmerle-Preis. Damit wurden seine Verdienste um die deutsch-polnische Versöhnung auf politischer und kultureller Ebene und sein Engagement für die Annäherung zwischen evangelischen und katholischen Theologen beider Länder gewürdigt. Wir fragten Bischof Nossol, was ein Versöhner braucht.
Herr Bischof, Sie haben sich Ihr Leben lang für Versöhnung eingesetzt. Hat das einen bestimmten Grund, eine Art Schlüsselerlebnis oder hat es sich einfach so ergeben?

Nossol: Nun, ich bin Schlesier, und Schlesien war immer ein Grenzland und damit auch ein Brückenland zwischen Ost und West. Ein schlesischer Schriftsteller sagte einmal: „Ein echter Schlesier gleicht einem Birnbaum, der auf einem Feldrain steht und auf beiden Seiten Früchte bringt.“ Wegen der drei Sprachen und Kulturen – der böhmisch-mährischen, der deutschen, der polnischen – war das Anderssein immer Thema bei uns. Aber ich habe es als Bereicherung gesehen, nie als totales Fremdsein. Denn mit dem Fremdsein kann man sich kaum bereichern, wohl aber mit dem Anderssein. Später hat Johannes Paul II. immer wieder betont, dass Europa lernen müsse, mit beiden Lungenhälften zu atmen: mit der westlichen wie auch mit der östlichen Kulturtradition. Und uns im Osten machte er Mut, dass auch der Osten dem Westen etwas zu bieten hat.

Sie haben unterschiedlichste Versöhnungsprozesse angestoßen. Gibt es einen, der Ihnen besonders wichtig ist?

Nossol: Die Versöhnungsmesse vom 12. November 1989 im Kreisauer Gut der Grafenfamilie von Moltke mit dem ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Polens, Tadeusz Mazowiecki, und dem damaligen deutschen Bundeskanzler, Helmut Kohl. Von polnischer Seite wusste man damals noch nicht, ob der Umbruch stabil bleiben würde. Von westdeutscher Seite war es aus anderen Gründen ein gewagter Schritt. Deshalb gab es im Vorfeld viele politische Gegenkräfte. Und man hat mich fast bekniet, dass ich den Friedensgruß auslasse. Manche meinten, den Deutschen sei nur an diesem symbolträchtigen Akt gelegen. Aber ich wollte keinesfalls davon absehen.An diesem 12. November war es enorm kalt. Aber noch tragischer war die innere, die ideologische Kälte, die man spürte. Fast 90 Prozent der 7000 Anwesenden waren Vertreter der deutschen Minderheit, die dabei zum ersten Mal seit dem Krieg in Schlesien of?ziell zum Tragen kam. Es gab viele Spruchbänder: ‚Helmut, du bist auch unser Kanzler’. Die Atmosphäre war aufgeladen, und keiner wusste, ob und wie sie sich entladen würde. Auch ich war davon völlig überrascht. Zu Beginn habe ich dann darum gebeten, sich für die Messe zu bereiten, damit Gott zu uns reden kann, auch in den Gesten der Eucharistiefeier. Die Spruchbänder wurden eingerollt, die Buh- und Begrüßungsrufe verstummten. Die Menge hat sich gesammelt, und wir haben deutsch und polnisch gesungen und gebetet. Dann haben die beiden Staatsmänner sich den Friedensgruß gegeben. Man sah Tränen in den Augen von Helmut Kohl. Mit dieser Geste kam eine ethische, eine christliche Komponente in den politischen Dialog, von der man in den internationalen Gesprächen dann kaum noch Abstand nehmen konnte. Deshalb kommt dieser Versöhnungsmesse in Kreisau eine ganz besondere Bedeutung zu.

Welche Eigenschaften braucht man für Versöhnungsarbeit?

Nossol: Ich fasse das immer in drei Punkten zusammen. Der erste ist Mut: Man muss aus der Reihe tanzen, um etwas ins Leben zu rufen. Das zweite ist Demut: Allein erreicht man nichts; man muss sich helfen lassen und man muss sich belehren lassen, weil man nicht alles weiß. Und der dritte Punkt ist die Langmut: Weder Berlin noch Warschau sind in zwei Wochen gebaut worden. Vor kurzem habe ich noch einen vierten Punkt hinzugefügt. (schmunzelt) Bei einem Abendessen zu Ehren des „Kanzlers der Einheit“ traf ich auf Helmut Kohl und sagte ihm: Durch Kreisau und Ihr Wirken im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess haben Sie mich gelehrt, dass zu Mut, Demut und Langmut, auch noch Helmut gehört. (lacht)

Wenn Sie auf heutige Versöhnungsprozesse schauen, wo müsste noch etwas passieren?

Nossol: Im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess sind wir in gewisser Weise bis zur Aussöhnung gekommen, aber die Versöhnung fehlt noch.Bei Versöhnungs- und Aussöhnungsprozessen geht es um mehrere Komponenten. Zunächst müssen sämtliche Vorurteile ausgeräumt werden, wie beispielsweise ‚der harte Deutsche’ oder ‚der faule Pole’. Dann geht es darum, die Ideen und Gedanken zu entgiften, beziehungsweise zu entideologisieren; oft hat sich über die Jahre vieles angesammelt, das unser Denken auf beiden Seiten bestimmt. Und die dritte Komponente ist die Heilung von Erinnerungen. Man darf nichts verdrängen, sondern muss der harten, rohen Wahrheit ins Gesicht schauen und sie beim Namen nennen.

Zum Beispiel?

Nossol: Der tragische Weltkrieg ist von Nazi-Deutschland begonnen worden. Und es hätte keine Vertreibung gegeben, wenn Deutschland diesen Krieg nicht angezettelt hätte. Aber auch die Vertreibung ist ein Verbrechen. Das muss beim Namen genannt werden. Wir dürfen es nicht verdrängen, nicht beschönigen. Aussöhnung geschieht durch Dialog, durch Verträge, Entgegenkommen, Diskussionen. Sie ist ein horizontales Geschehen. Die Versöhnung ist ein zutiefst vertikales Geschehen. Dazu bedarf es der Gnade. Ohne die kommt es nicht zur wahren Versöhnung. Und dazu können wir als Christen nicht zuletzt durch eine echte, lebendige Ökumene beitragen, bei der man sich gegenseitig bereichert. So können wir zu einer wahren versöhnten Verschiedenheit beitragen. Die Erfahrung der Ökumene hilft auch, den eigenen Standpunkt zu relativieren. Nicht wir allein haben die Wahrheit gepachtet. Die Wahrheit muss uns haben.

Sie meinen diese ökumenische Erfahrung könnte auch gesellschaftlich ein Vorbild sein?

Nossol: Ja, sicher. Kirche ist ein Werkzeug der Integration, auch der Integration von Minderheiten. Genauso wie auch die Universität eine Integrationsinstanz ist. Minderheiten sind eine enorme Bereicherung. Wir haben dadurch eine internationale Öffnung auf Europa erfahren. Und das wirksamste Gegengift für jede nationalistische, ethnische Einengung ist Europa. Deswegen braucht es die Ökumene für uns alle. Sie hilft uns. Wir müssen uns gegenseitig den Ball zuspielen, damit es zu einem Europa kommt, das eine wahre Gemeinschaft des Geistes, eine Kultur- und Wertegemeinschaft wird. Dass es – in gewisser Weise – ein neues Bethlehem für die Welt wird, ein Ort des Friedens.

1997, bei der Verleihung des Augsburger Friedenspreises, forderten Sie eine ‚christliche Internationale’. Würden Sie das heute wiederholen?

Nossol: Auf jeden Fall. Hier geht es um die Worte des Völkerapostels an die Galater: Es gibt weder Juden noch Griechen, weder Sklaven noch Freie, in Christus Jesus sind wir alle eins. Dazu gibt es keine Alternative. Alle anderen Internationalen sind in die Brüche gegangen. Wenn wir die leben, könnte man von Europa wirklich als einem neuen Bethlehem für die Welt reden, wo niemand zu kurz kommt, wo alle die gleiche Würde haben. Das schafft keine Ideologie. Niemand sonst kann das so konkret, so eindeutig aussagen und auch das Gnadenmaterial liefern, das dazu nötig ist.

Wenn man sich so einsetzt wie Sie, schafft man sich sicher nicht nur Freunde.

Nossol: Das muss man in Kauf nehmen. Nach dem Gottesdienst in Kreisau beispielsweise hat man mir Hochverrat in die Schuhe schieben wollen. Auf den Straßen haben Jugendliche vor mir auf den Boden gespuckt. Man hat mich wüst beschimpft. Auf die Mauern meiner Heimatkirche und des Oppelner Bischofshauses hat man Aufschriften gesprüht: „Nossol raus nach Berlin“. Aber das legt sich dann auch wieder.

War Ihre Position als Bischof hilfreich, um Brücken zu bauen, oder war sie manchmal auch ein Hindernis?

Nossol: Wissen Sie, ich wollte eigentlich nicht Brücken bauen. Aber als Bischof muss man Pontifex, Brückenbauer sein. Wenn man die Aufgabe annimmt, muss man konsequent sein. Ob es Freude einbringt oder nicht. Sonst würde man früher oder später als Heuchler enttarnt.Und meine Erfahrung ist, dass das Amt hilft. Man konnte immer etwas tun, aber eben nicht aus eigener Macht, sondern weil man sich führen lässt in der Kraft des Heiligen Geistes. So ist dann vieles geschehen, dass ich nicht einmal angesteuert hatte. Manches scheint Zufall, aber Zufälle sind die Logik Gottes.

Was würden Sie jungen Menschen gerne mit auf den Weg geben?

Nossol: In unserer Diözese traf ich immer deutsche und polnische Jugendliche, die in den Ferien die Gräber von Kriegsopfern unterschiedlicher Nationen besuchten und p?egten. Es hat mich immer gefreut, dass ihnen so sehr an Europa als Gemeinschaft des Geistes, sprich: als Werte- und Kulturgemeinschaft liegt. Ich habe ihnen immer die schlesischen Widerstandskämpfer – von Moltke, Bonhoeffer, Edith Stein – aufgezeigt, die trotz dieser tragischen Lage ihren Prinzipien treu geblieben sind und sich als wahre Christen behaupteten. Und ich habe sie ermutigt, christlicher zu denken, im Sinne des allumfassend, zutiefst Menschlichen unseres Glaubens.

Und was sagen Sie der Generation, die das ganze Leid miterlebt hat und auch heute noch darunter leidet?

Nossol: Wir müssen ihnen dankbar sein, dass sie es ausgehalten haben. Sie können dieses Leiden krönen, wenn sie zutiefst christlich über die Aus- und Versöhnung denken.

Vielen Dank für das Gespräch.

 Andrea Fleming

 

  (Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2010)
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