10. März 2010

Von Anfang an dabei

Von nst_xy

Ursula Tscheschner war die erste Deutsche, die ins Fokolar eintrat, und die erste Redakteurin der Neuen Stadt. Bis heute brennt ihr Herz für Einheit und Versöhnung.

Eine Szene, die Ursula Tscheschner im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs bei einem Ausflug mit Schülerinnen vor Augen hatte, verfolgt sie bis heute: Auf einem Bahnhof unweit von Auschwitz beobachtete sie auf einem etwas abgelegenen Gleis einen hellblau angestrichenen Güterzug, der ihr sonderbar vorkam. Sie sah Hände, die aus den vergitterten Fenstern herausgriffen. Menschen versuchten offenbar, sich an den Eisengittern hochzuziehen. Die junge Aushilfslehrerin spürte geradezu die Verzweiflung derer, die da in den Waggons eingepfercht waren. Als jemand aus ihrer Gruppe einem Bahnbeamten den Hinweis gab, dass da wohl Hilfe von Nöten sei, kam eine Antwort, die jedes Nachfragen ausschloss: „Wenn Ihr noch einmal so eine Bemerkung macht, landet ihr auch noch dort.“Erst dann konnte sie sich auch den eigenartigen Gestank erklären, der bei ungünstigen Windrichtungenbis zu ihrer 20 Kilometer von Auschwitz entfernten Schule gedrungen war. Sie nutzte jede Gelegenheit, sich über das Geschehen in den Lagern der Nationalsozialisten zu informieren. Eine Frage ließ ihr keine Ruhe: Darf ich, darf meine Generation nach all dem, was sich da abgespielt hatte, noch so leben wie vorher? Zunächst blieb ihr kaum Zeit zum Grübeln: Sie floh vor den einmarschierenden Besatzern aus ihrer schlesischen Heimatstadt Brieg in ein Häuschen in den Bergen. Als sie zurückkehren konnte, wurde sie dann endgültig aus der Heimat vertrieben und gelangte in ein nord-westdeutsches Dorf, in dem sie als Flüchtling gänzlich unwillkommen war. Ursula Tscheschner erinnert sich an quälende Fragen, die immer wieder kamen: Wo war Gott gewesen, als Menschen einander so unsägliches Leid zugefügt hatten? Warum hatte er nicht eingegriffen? Wo war seine Barmherzigkeit? Immer wieder musste sie an den hellblauen Transportzug nach Auschwitz denken. Der christliche Glaube, der ihr in der Kindheit und Jugend so selbstverständlich gewesen war, schien tief verschüttet. Nachdem sie in Detmold begonnen hatte, Innenarchitektur zu studieren, fand sie ihren Glauben chrittweise wieder. Zwei Schwestern nahmen sie bereitwillig in ihre Familie auf. „Wir haben ja im Krieg nichts verloren, und es ist doch Christenpflicht, denen zu helfen, die alles verloren haben“, sagten die beiden zur Begründung – ein Satz, der die Studentin zum Nachdenken brachte. Predigten über Jesus, der jeden Menschen persönlich liebt, fanden bei Ursula Tscheschner jetzt Widerhall. Dabei hatte sie die Gottesdienste zunächst nur aus Höflichkeit gegenüber ihren Gastgeberinnen besucht.Die Fragen blieben jedoch, und weitere kamen hinzu, als der jungen Frau die Spaltung ihres Landes und der Kirche in ihrem Land im Laufe der Jahre immer schmerzlicher bewusst wurden. Ihre Eltern hatte es nach Dresden verschlagen, eine Schwester lebte in Ostberlin. „Bei meinen regelmäßigen Besuchen in Dresden und Berlin spürte ich, wie das Leben in der DDR immer grauer wurde“, erinnert sie sich. „Alles war so ausweglos, ohne Hoffnung, ohne Zukunft. Es schien, als würde sich in den Menschen eine große Leere den Weg bahnen.“ Die Trennung der Kirchen trat ihr besonders in Gesprächen mit einer evangelischen Arbeitskollegin als brennendes Pro-blem vor Augen. Die politischen und religiösen Risse im Lande hielt sie für unvereinbar mit dem, was sie über die Liebe Gottes gehört hatte. In Heidelberg, wo Ursula Tsche-schner unterdessen wohnte, begegnete sie einigen Mitgliedern der Fokolar-Bewegung. Je mehr sie deren Gedanken und Lebensweise kennenlernte, desto mehr war sie überzeugt, hier Antworten auf die Fragen zu finden, die sie seit Jahren umtrieben. Dass die Fokolare durch Liebe zur Einheit gelangen wollten und sich dabei an dem Gebet Jesu „dass alle eins seien …“ (Joh 17,21) ausrichteten, berührte sie so sehr, dass sie sich 1959 als erste Deutsche entschloss, dem engsten Kreis der Bewegung, den bis dahin nur in Italien bestehenden Fokolar-Lebensgemeinschaften, anzuschließen. „Deutschland schien mir wie durch ein Kreuz getrennt: senkrecht die politische Trennung, horizontal die religiöse Spaltung“, sagt Ursula Tscheschner, „und es ging mitten durch mein    Leben, durch meine Familie. Bei einem Besuch in Dresden ging mir auf, wie sehr diese Spiritualität der Einheit eine Antwort für unsere deutsche Situation war.“ Chiara Lubich habe diesen Gedanken aufgegriffen, unter anderem durch die Gründung von Fokolar-Gemeinschaften in der DDR. Unmittelbar nach dem Mauerbau half Ursula Tscheschner von Westberlin aus mit, dies vorzubereiten: „Wir versuchten Menschen zu helfen, die plötzlich durch die Mauer von ihren Familien getrennt waren“,  erzählt sie. „Soweit es möglich war, machten wir ihnen Mut und Hoffnung und waren für sie da. Fast täglich machten wir Besuche im Ostteil der Stadt, jedes Mal an einem anderen Grenzübergang.“ Auch später war Ursula Tscheschner oft an vorderster Stelle mit dabei, wo in der Fokolar-Bewegung in Deutschland Neues entstand. Schon 1959, im zweiten Jahr ihres Bestehens, arbeitete sie für die Zeitschrift NEUE STADT und war von 1966 bis 1969 deren Chefredakteurin. Zeitgleich wirkte sie am Aufbau der ökumenischen Siedlung Ottmaring mit. Schon im Rentenalter, hat sie sich in den 90er-Jahren auf eine weitere Pioniererfahrung außerhalb Deutschlands eingelassen: Sie half beim Bau einer Fokolar-Modell-siedlung an der Elfenbeinküste mit. „Vielleicht war es die schönste Zeit in meinem Leben, auch wenn sie mit vielen Schwierigkeiten verbunden war“, sagt sie über ihre fünf afrikanischen Jahre.Vor zehn Jahren ist sie nach Dresden zurückgekehrt, in die Stadt, in der auch ihre Eltern den Ruhestand verlebten. So weit es ihr Gesundheitszustand erlaubt, trägt die nun mehr 83-Jährige die Aktivitäten der jüngeren Fokolarinnen mit, die mit ihr das Leben teilen. Dabei wandern die Gedanken häufig zu den Erlebnissen der eigenen Jugendzeit zurück. Häufig in den vergangenen Jahren hat sie die Gelegenheit genutzt, die neu erbaute Dresdner Synagoge zu besuchen. Das jüdische Gemeindeleben ist nach der Wende vor allem durch Zuwanderer aus Russland neu aufgelebt. Ursula Tscheschner sucht den Kontakt zu ihnen. „Ich habe das Sterben der Juden in Deutschland miterlebt. Es ist schön, nun teilhaben zu dürfen an ihrem neuen Aufleben“, sagt sie.  Unvergesslich ist ihr der Besuch von Papst Benedikt XVI. in Auschwitz, den sie am Fernsehen miterlebt hat. Vor der Todesmauer, an der er stand, hatte sie selbst einige Jahre zuvor gestanden. „Ich fühlte mich dort zerdrückt von der Schuld, die unser Volk auf sich geladen hat“, weiß sie noch. Stark bewegt war sie von der Vergebungsbitte des Papstes. „Ich spürte dabei eine große Nähe zu Jesus in seiner Verlassenheit am Kreuz, der in seiner Hingabe und Liebe auf das Warum des 20. Jahrhunderts Antwort geben kann.“ 

Dorothee Wanzek

 (Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2010)
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