10. April 2010

„Gebt mir einen Körper!“

Von nst3

Anmerkungen zu „Avatar – Aufbruch nach Pandora“

In der Märzausgabe von „Cicero“ hat der Regisseur Wim Wenders James Camerons jüngsten Film als Ausdruck einer „Sehnsucht nach dem Heiligen“ gewürdigt, als Verlangen nach einer unberührten Natur, einer Durchdringung von Materie und Geist, einer erdhaften, geerdeten Öko-Religion. „Avatar“ lässt sich aber auch – gerade vor dem Hintergrund eines derzeit bedrängenden Diskurses über sexuellen Missbrauch in unserer Gesellschaft – als Ausdruck der Sehnsucht nach einem unversehrten, unzerstörbaren Körper begreifen, einer Existenz, die endlich wieder zum Träger eines Traumes, einer Verheißung für die Zukunft wird und dadurch dem Trauma der Vergangenheit entkommt. „Donnez-moi donc un corps!“ hat der Filmphilosoph Gilles Deleuze diese Ur-Sehnsucht des Kinos einmal imperativisch gewendet: „Gebt mir einen Körper!“ Und genau diesem Begehren wird in der Parabel einer physischen und spirituellen Verwandlung des querschnittsgelähmten Kriegshelden Jake stattgegeben.

Was diesen Film auszeichnet, ist die digitale Erschaffung und Exploration phantastisch überbordender Bilderwelten, in denen die Figuren ungeahnte Flieh-und Flugkräfte entwickeln, die Begrenzungen ihrer Physis überwinden und auch ihre Geschichten irgendwann hinter sich lassen.

Das ist das Paradies auf dem Planeten Pandora im Jahre 2154: Der Eskapismus erweist sich als Erfahrung der Epiphanie. „Living through life flying high, Your life shines the way into paradise“ besingt denn auch Leona Lewis diese göttlichen Fluchtphantasien, den Aufbruch in eine andere, bessere Welt.Der titelgebende „Avatar“ bezeichnet in seiner ursprünglich hinduistischen Bedeutung den Ort einer Materialisierung des Spirituellen, die Verkörperung des Göttlichen. Bei Cameron erscheint er zunächst als ferngelenktes, von den Militärs manipuliertes Simulacrum. Erst als Jake seinen bisherigen Ersatz- als Ursprungs-Körper empfängt, löst sich das Heilsversprechen des Kinos ein: als Initiationsritus, Ereignis einer „Auferstehung“: Jake findet (s)ein neues Leben als einer der Ureinwohner des Planeten, den übermenschlichen und überlebensgroßen Fabelwesen der Na ́vi. In diesem Schlüssel- und Schlussmoment verabschiedet „Avatar“ gerade in seiner religiösen Lesart das christliche Projekt einer Inkarnation oder Gottebenbildlichkeit zugunsten der technologisch aufgeladenen Variante einer „Cyber- gnosis“, die die Entgrenzung des Selbst im virtuellen Raum feiert und die Begrenztheit eines individuellen Körperbewusstseins als Ursache allen Übels markiert.

Zugleich aber liegt in einem anderen Augenblick die besondere Schönheit des Films: Neytiri, die anmutige Tochter der Na ́vi, erblickt nämlich Jake, dem sie bis lang nur als Avatar begegnet ist, endlich in seiner nackten, verkrüppelten Wahrheit des Menschlichen. Erst in diesem Anblick erkennt sie ihre gemeinsame Liebe wieder. So rettet, bewahrt sie ihn vor dem sicheren Tod. Und in dem Augenblick, da Jake schließlich die Augen öffnet zum neuen Leben als Na ́vi endet der Film. So erfüllt sich eine weitere Ur-Sehnsucht des Kinos, die an Chaplins „City Lights“, das berührende „I can see now!“ seiner Liebenden erinnert: Hier wie dort geht es immer nur darum, erweckt zu werden – zum wahren Sehen, zum wahren Sein. In dem unvergleichlichen Augenblick, da man einander ansichtig und gewahr wird – in jenem An-und Augenblick des Anderen, der das Eigene verwandelt, erlöst: I see you, intoniert Leona Lewis das filmische Credo in Camerons „Avatar“. Now I live through you and you through me, I see me through your eyes. – I see you! – „Ich erkenne Dich! Ich lebe durch Dich und Du lebst durch mich. Ich sehe mich neu mit Deinen Augen. Ja, ich erkenne Dich!“ – Ganz großes Kino.
Herbert Lauenroth

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, April 2010)
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