11. Mai 2010

Erfolgreich gescheitert

Von nst_xy

Vor 450 Jahren starb Philipp Melanchthon, der Brückenbauer unter den Reformatoren.

Heute würde man ihn einen Hochbegabten nennen. Philipp wurde 1497 in der kurpfälzischen Kleinstadt Bretten geboren. In der Lateinschule in Pforzheim fiel er seinem Großonkel Johannes Reuchlin auf. Der Humanist und Philologe verlieh ihm schon im Alter von zwölf Jahren den Humanistennamen „Melanchthon“, die Übersetzung seines Familiennamens „Schwarzerdt“ ins Griechische. Eine akademische Blitzkarriere folgte: Nach nur zweijährigem Studium darf Melanchthon mit 17 bereits als Magister unterrichten, studiert und lehrt Astronomie, Mathematik, Physik, Geschichte, Theologie. Mit 21 wird er als Professor auf den neu errichteten Lehrstuhl für Griechisch an die Wittenberger Universität berufen.

In Wittenberg begegnet er Martin Luther. Es war Freundschaft auf den ersten Blick; beide waren einander fast 30 Jahre lang eng verbunden.

Dabei waren sie ganz unterschiedlich: Melanchthon, 14 Jahre jünger, von schmächtiger Gestalt, nur 1,50 Meter groß, mit einem vergeistigten schmalen Gesicht. Luther dagegen von bäuerlich-derber Gestalt und Vitalität, geprägt von Leidenschaft für seine „Sache“, der Erneuerung von Glaube und Kirche.
Unterschiedlich waren sie auch in ihrer geistlichen Biografie: Luthers Reformation erwuchs aus einer tiefen geistlichen Krise, die ihn (im Kloster!) bis an den Rand der Verzweiflung an Gott geführt hatte – und dann die rettende Entdeckung des gnädigen Gottes, die Wiederentdeckung des Evangeliums und neuer religiöser Gewissheit „allein aus Gnaden“, „allein um Christi willen“, „allein durch die Heilige Schrift“.
Melanchthon dagegen hatte die überlieferte christliche Religion bruchlos, problemlos übernommen – bis er Luther kennenlernte und von ihm „erweckt“ wurde für das wieder gefundene Evangelium. „Von ihm habe ich das Evangelium gelernt“, bekennt er. Mit Luther blühte er auf. Er wurde sein Mitarbeiter, ja Mit-Reformator – ohne jemals zu predigen und Gottesdienst zu halten.
„Wir sind zum wechselseitigen Gespräch geboren“, war sein Leitspruch. In Vorlesungen und Büchern, in Tausenden von Briefen nach ganz Europa, als Unterhändler bei Reichstagen und Religionsgesprächen vertrat er die Sache der Reformation. Mit Luther suchte er 1529 beim Marburger Religionsgespräch einen Konsens in den strittigen Fragen mit dem Zürcher Reformator Zwingli und den oberdeutschen Reformatoren. Tatsächlich erzielten sie mit seiner Vermittlungshilfe in vierzehn Fragen Einigkeit, nur in einer, der Abendmahlsfrage, schied man uneinig. Bekümmert über den Misserfolg schrieb er an seinen Bruder, ein Seufzer, der aktueller nicht sein könnte: „Da disputieren sie über das Abendmahl, gleich als ob sie in den Himmel gesehen und Jesum gefragt hätten, wie er die Worte: ‚Das ist mein Leib‘ verstanden habe. Sie werden es doch hier auf Erden nicht ausmachen …“
Als Kaiser Karl V. 1530 den Reichstag nach Augsburg einberief, um den „Religionsstreitigkeiten“ ein Ende zu machen, durfte Luther, da in Reichsacht, nicht nach Augsburg reisen. Melanchthon schrieb in seinem Auftrag eine versöhnliche Zusammenfassung des evangelischen Glaubens, das „Augsburger Bekenntnis“, in der erklärten Absicht nachzuweisen, „dass die Reformation in Lehre und Ordnung mit der Heiligen Schrift und mit der katholischen Kirche übereinstimmt“.

Sein und Luthers Anliegen war die Reform der einen Kirche aufgrund des in seiner Unverdorbenheit wieder gewonnenen Glaubens, keinesfalls die Gründung von Reformationskirchen. Durch das Augsburger Bekenntnis sollte die Einheit der Kirche bestätigt und gefördert werden.

Doch wurde seine Darlegung katholischer- beziehungsweise kaiserlicherseits zurückgewiesen. Die Vermittlungsbemühung Melanchthons war gescheitert!
Dennoch arbeitete Melanchthon unermüdlich weiter. Für ihn war Bildung für alle das Lebensthema in einer Zeit radikaler Umbrüche. So gründete er Schulen im Sinne seiner Reformpädagogik und kümmerte sich auch um die Hebung des Bildungsstandes der Pfarrer.
Nach Luthers Tod, 1546, geriet Melanchthon zwischen alle Fronten. Ihm wurde vorgeworfen, er habe den Katholiken zu sehr nachgegeben und Luthers Reformation „leisetreterisch“ verraten. Am 19. April 1560 starb der leidenschaftliche Ökumeniker völlig entkräftet und von den Angriffen zermürbt. Dass die Reformation zur Kirchenspaltung und zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt hatte, bekümmerte ihn bis zuletzt. „Nun bin ich schwach und mir ist nicht wohl. Doch tut mir meine Krankheit nicht so weh wie der große Jammer um das Elend der heiligen christlichen Kirchen, das aus unnötiger Trennung, Bosheit und Mutwillen … entsteht.“
Was bleibt als sein Vermächtnis?
Zunächst ist sicher die dankbare Erinnerung an ein selbstloses Leben im Dienst der Kirche als Vermittler, Ökumeniker, Friedensförderer und Erneuerer der einen Kirche zu nennen.
Melanchthon hat den Kirchen der Reformation das Bewusstsein des geschichtlichen Zusammenhangs mit der alten katholischen Kirche erhalten. Er hat dem Luthertum die ökumenische Weite, die Leidenschaft für die eine Kirche (die evangelische Kirche als Teil der „una sancta catholica et apostolica ecclesia“) und die gesamtkirchliche Bedeutung der Reformation mit auf den Weg gegeben. Die Reformation ist kein bloß konfessionelles Ereignis, sondern ein für die gesamte Christenheit bedeutsames und unerlässliches Werk.
Dass evangelische Theologie dank Melanchthon als Wissenschaft im Rahmen der Universität einen festen Platz erhalten hat, wehrt der Enge einer kirchlichen Bildungsanstalt, die nur als Zurüstung für den kirchlichen Dienst betrieben wird. Evangelische Theologie hat sich als Gesprächspartnerin der anderen Wissenschaften einzubringen, die kritische Frage nach der Wahrheit zu stellen, aber auch an die Grenzen menschlicher Erkenntnis zu erinnern.
Glaube bedarf nach Melanchthons Überzeugung der Bildung. Glaube und Bildung, Glaube und Wissen dürfen keine Gegensätze sein.
Ihm haben die reformatorischen Kirchen ökumenische Gesinnung und Weite zu verdanken – und zwar zu allen Kirchen, nicht nur zur römischen. Das entspricht zutiefst seinem Verständnis von Kirche: dass sie eine ist und dass ihr von vornherein die Einheit eingestiftet ist, was nicht Gleichförmigkeit in Strukturen und Riten bedeutet.
Er hat uns allen damit auch eine Aufgabe gegeben, deren sich die Kirche gerade in heutiger Zeit wieder bewusst werden muss. Ich bin überzeugt, dass das auch Auftrag und Chance des Ökumenischen Kirchentags ist, den wir in diesem Monat in München feiern.
Ernst Öffner

Ernst Öffner
geboren 1943, war von 1995 bis 2008 Regionalbischof des Kirchenkreises Augsburg und Schwaben. Öffner war Mitglied verschiedener ökumenischer Arbeitsgemeinschaften, zur Zeit in der Dritten bilateralen Arbeitsgruppe zwischen evang.-luth. und röm.-kath. Kirche. Er veröffentlichte zahlreiche Schriften zu Fragen der Praktischen Theologie, Predigtstudien und zur Ökumene.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2010)
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