11. Mai 2010

Mit der Straße kommt die Angst

Von nst_xy

Im Norden Kambodschas lebt das Volk der Kreung. Die Hilfsorganisation Care begleitet sie seit vielen Jahren – auch jetzt, wo der Bau einer großen Straße ihr Leben radikal zu verändern droht. Wie schützt man eine Minderheit ohne falsche Romantik?
Eine Herausforderung nicht nur in Kamboscha.

Kilometer für Kilometer frisst sich das Ungeheuer durch den Urwald und wühlt die rote Erde auf. Eine große Staubwolke bedeckt das wenige Grün in der Umgebung. Jahrhunderte alte Bäume knicken um wie Streichhölzer. Zurück bleibt eine schwarze Spur aus Teer, die immer tiefer in die dünn besiedelte Gegend eindringt. Ratanakiri liegt im äußersten Nordosten Kambodschas, unweit der Grenze zu Laos und Vietnam. Die Provinz ist über zehn Autostunden entfernt von der Hauptstadt Phnom Penh und bisher nur über Sandpisten zu erreichen.
Die neue Straße, die von China gebaut und bezahlt wird, verbindet China und Vietnam mit Kambodscha. Zugleich werden hohe Masten errichtet, um das Land flächendeckend mit Mobilfunk und Strom zu versorgen. Die Chinesen bauen nicht allein aus Menschenfreundlichkeit. Sie sehen im sich rasch entwickelnden Kambodscha einen neuen Absatzmarkt, den sie erschließen wollen, bevor andere es tun. Mit der Straße kommen Lastwagen mit billig produzierten Waren, Touristen auf der Suche nach den letzten unberührten Flecken der Erde, aber auch Prostitution, Menschenhandel, Drogen und Aids.
Wer sich nicht auskennt, findet das Dorf nicht, obwohl es nur wenige hundert Meter von der großen Straße entfernt liegt. Kein Schild weist den Weg. Ein schmaler Sandweg führt zum Gemeindehaus, in dem sich die Ältesten regelmäßig versammeln, um über Angelegenheiten des Dorfes zu beraten. Direkt daneben toben Kinder auf dem großzügigen Spielplatz aus Holz.
Sik nennen die Kreung ihr Dorf mitten im Urwald, etwa 20 Kilometer entfernt von der Provinzhauptstadt Ban Lung. Die Kreung, eine Minderheit in Kambodscha, leben hier seit vielen Jahrhunderten. Sie sind Animisten, glauben also an Naturkräfte und Geister, anders als der Rest des Landes, der sich zum Buddhismus bekennt.

In Sik scheint die Zeit still zu stehen. Es gibt keine Elektrizität. Die Menschen leben in traditionellen Pfahlbauten, die sie vor den regelmäßigen Überschwemmungen in der Regenzeit schützen. Es gibt nur wenige Motorräder, der kleine Einkaufsladen führt nur ein paar Produkte. Auf ihren Feldern rund um das Dorf bauen die Kreung vor allem Reis an.

„Die Außenwelt wird schon sehr bald eindringen“, prophezeit Jan Noorlander, gebürtiger Niederländer und seit 15 Jahren Koordinator der Hilfsorganisation Care für Ratanakiri. Natürlich leben die Menschen in Sik bereits heute nicht vollständig abgeriegelt von der modernen Zivilisation. Viele Frauen gehen frühmorgens zu Fuß nach Ban Lung, um dort auf dem Markt ihre Produkte zu verkaufen. Die Kreung kennen die Welt außerhalb ihres Dorfes, aber sie legen großen Wert darauf, ihre eigenen Traditionen und Lebensformen zu bewahren. Sie haben schlechte Erfahrungen gemacht.
Schon einmal, vor etwa 30 Jahren, kamen fremde Menschen in ihr Dorf. Es waren Soldaten der Roten Khmer. Sie prangerten die Ungerechtigkeit im Land an und versprachen, die Bedingungen der geknechteten Landbevölkerung zu verbessern. Das klang verlockend, und wie so viele andere schlossen sich die Kreung den kommunistischen Partisanen an. Viele junge Männer verließen ihr Dorf und zogen mit den Roten Khmer, die von China und von der Sowjetunion bewaffnet wurden, in den Krieg. Als sie die Regierungstruppen besiegt hatten, errichteten die Roten Khmer um Pol Pot eine Schreckensherrschaft, von der sich das Land bis heute nicht erholt hat.
Irgendwann begannen die Säuberungsaktionen unter den Roten Khmer, denen auch viele Söhne der Kreung zum Opfer fielen. Das Dorf sagte sich von den Partisanen los, aber es war bereits zu spät. „Unser Boden, der uns so heilig ist, ist entweiht von dem Blut unserer Söhne“, sagen sie. Geblieben ist ein großes Misstrauen – untereinander, aber vor allem gegenüber der Welt außerhalb des Dorfes.
Es dauerte lange, bis sie den Mitarbeitern von Care vertrauten. Seit einigen Jahren engagiert sich die Hilfsorganisation, die ihren Ursprung in den USA hat und die in Deutschland vor allem wegen der Care-Pakete in der Nachkriegszeit bekannt wurde, in Sik. Die Arbeit hat zwei Schwerpunkte: Nahrungssicherheit und Bildung.
Die Frage, ob es nicht besser sei, die Menschen in Sik in Ruhe zu lassen und sich nicht in ihr Leben einzumischen, stellt sich für Jan Noorlander nicht. „Zum einen kommt es regelmäßig in der Trockenzeit zu Hunger und Krankheiten. Es wäre zynisch, aus einer naiven Romantik heraus den Menschen nicht zu helfen. Zum anderen wird die große Straße bald fertig sein. Dann werden andere kommen, und ich bezweifle, dass sie irgendeine Rücksicht auf das Wohl der Kreung nehmen werden.“ Entscheidend sei, Wege zu finden, die Menschen an die Moderne heranzuführen und zugleich ihre Traditionen und Bräuche zu achten und zu wahren. Nicht weit entfernt vom Gemeindehaus befinden sich die beiden Neue Stadt | Mai 2010 Dorfschulen, einfache Holzhäuser, die im Innenraum liebevoll mit Bildern und Girlanden dekoriert sind.
Die Schüler sitzen an Holzbänken und schreiben Schriftzeichen auf Schiefertafeln. Auf das Zeichen des Lehrers hin halten sie ihre Tafeln hoch. Diszipliniert geht es zu, aber zugleich herrscht eine heitere und entspannte Stimmung. Die meisten Kreung können weder lesen noch schreiben. Bis vor wenigen Jahren gab es nur eine Schule im Dorf. Doch dort wird nur in der Landessprache Khmer unterrichtet. Die meisten Kreung beherrschen aber nur die eigene Sprache.
Care hat deswegen eine weitere Schule aufgebaut. Unterrichtet wird in der ersten Klasse ausschließlich in der Sprache der Kreung. Danach erhöht sich schrittweise der Anteil, der in Khmer unterrichtet wird, bis zur abschließenden sechsten Klasse, in der nur noch in der offiziellen Sprache Kambodschas gelehrt wird. Schüler, die eine weiterführende Schule in Ban Lung besuchen wollen, sind so optimal vorbereitet.
Auch eigene Schulbücher wurden entwickelt, mit Fabeln und Geschichten aus der Tradition der Kreung. Ein Schulkomitee der Dorfältesten wacht über den Lehrplan. Auch die Lehrer, oft Jugendliche aus dem Dorf, die bereits lesen und schreiben können, werden regelmäßig fortgebildet. Ihr kleines Gehalt richtet sich danach, wie viele Seminare sie besuchen. Wer nach einigen Jahren eine Prüfung ablegt, ist sogar als staatlicher Lehrer anerkannt.
Neben den Erstklässlern sitzen auch einige 13- oder 14-jährige Mädchen. Sie hatten bisher keine Chance, eine Schule zu besuchen, weil sie zuhause bleiben mussten, um auf die jüngeren Geschwister aufzupassen, während die Eltern zur Feldarbeit gingen. Seitdem es einen Kindergarten gibt, können auch sie am Unterricht teilnehmen.

Gerade für Mädchen ist Bildung enorm wichtig: Waren es vor 30 Jahren vor allem junge Männer, die ihre Dörfer verlassen haben, so sind es heute vor allem junge Frauen. Um der Armut zu entkommen, gehen sie in die großen Städte und arbeiten, wenn es gut geht, in Fabriken.

Im schlimmsten Fall landen sie als Bier-Girls in den derzeit so beliebten Biergärten, in denen sie leicht bekleidet die Männer zum Biertrinken animieren müssen. Oft ist es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zur Prostitution. Oder die Mädchen werden ins Ausland verschleppt, um dort in Bordellen ausgebeutet zu werden.
Am Abend herrscht reges Treiben auf dem Dorfplatz. Es läuft die wöchentliche Kochshow. Mitarbeiter von Care stellen einen Korb mit Zutaten zusammen und einige Frauen haben die Aufgabe, daraus möglichst schmackhafte Gerichte zu zaubern. Eine Jury vergibt Punkte und kürt die Siegerin. Gekocht wird vor allem mit Gemüsesorten, die bisher für die Kreung unbekannt waren, die aber im Dorfgarten angebaut werden. „Es geht darum, auf spielerische Weise die Nahrungsgewohnheiten zu erweitern, damit vor allem die Kinder ausreichend mit Vitaminen versorgt werden“, erklärt Jan Noorlander. Die Gewinnerin des Abends trägt stolz den Preis nach Hause, eine rote Plastikschüssel.
Die Bagger der Straßenbauer rücken täglich näher. Ein Drittel der neuen Straße ist bereits fertig gestellt. In zwei Jahren soll der Verkehr ungehindert fließen. Was das für die Menschen in Sik bedeutet, lässt sich nur erahnen. Die Straße wird ihr bisheriges Leben auf den Kopf stellen. Von der Regierung in der fernen Hauptstadt ist keine Hilfe zu erwarten. Sie gilt als korrupt und möchte den Einfluss von Hilfsorganisationen wie Care zurückdrängen. Schließlich gibt es andere, wie die Chinesen, die investieren, ohne unbequeme Fragen oder Bedingungen zu stellen. Jan Noorlander hofft, dass die Kreung selbstbewusst genug sind, um auch in Zukunft die eigene Identität zu wahren.
Christian Bahlmann

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2010)
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