15. September 2010

Wenn der Bogen überspannt wird

Von nst_xy

Der IGH schreibt Rechtsgeschichte

Die Gründung der UNO nach dem zweiten Weltkrieg war der Versuch, eine Weltfriedensordnung zu sichern. Dasselbe Anliegen hatte bereits der Völkerbund nach dem ersten Weltkrieg verfolgt, aber er blieb nicht von Dauer. Auch nach der Gründung der UNO wurden Kriege geführt, aber es gelang den Vereinten Nationen auch, Kriege zu verhindern oder zu beenden.

Zu den Organen der UNO gehört auch der 1945 gegründete Internationale Gerichtshof (IGH) mit Sitz in Den Haag.

Eigentlich handelt es sich nicht um ein Gericht im strengen Sinn des Wortes. Gerichte fällen Entscheidungen, die anschließend vollstreckt werden können. Der IGH dagegen erstellt lediglich Gutachten, weil er auf dem Gebiet des Völkerrechts tätig wird. Während das innerstaatliche Recht im Wesentlichen auf Gesetzen beruht, besteht das Völkerrecht weitgehend aus zwischenstaatlichen Verträgen, aus Gewohnheitsrecht sowie aus Entscheidungen der UNO und ihrer Organe.

Seine letzte, Aufsehen erregende Entscheidung verkündete der IGH am 22. Juli. Sie betraf die Unabhängigkeitserklärung der serbischen Provinz Kosovo vom 17. Februar 2008.

Auch wenn inzwischen 69 Staaten die Unabhängigkeit des Kosovo anerkannt haben, konnte sich Serbien mit diesem Schritt nicht abfinden und entschloss sich zu einer Klage vor dem IGH. Die Hoffnungen der Serben ruhten auf dem weitgehend anerkannten völkerrechtlichen Grundsatz, dass die Souveränität eines bestehenden Staates zu respektieren sei.

Im Grunde genommen hat der IGH an diesem Grundsatz nichts geändert. Die Richter stellten aber trotzdem fest, dass das Kosovo durch seine Unabhängigkeitserklärung nicht gegen Völkerrecht verstoßen habe. Der Hauptgrund für diese Schlussfolgerung ist in der Vorgeschichte zu der Unabhängigkeitserklärung zu suchen. Denn seit Ende der neunziger Jahre drohte den Kosovo-Albanern von Seiten des serbischen Milosewic-Regimes die Vertreibung oder gar der Völkermord. Erst durch ein militärisches Eingreifen der NATO konnte Milosewic gezwungen werden, die Aktionen seiner Truppen gegen die Kosovo-Albaner einzustellen.

Indem der IGH diese Bedrohungslage in seinem Spruch berücksichtigt hat, machte er deutlich, dass man die Existenz einer Volksgruppe nicht einem bloßtheoretisch verstandenen Prinzip der staatlichen Souveränität opfern darf. Mit anderen Worten: Der Mensch steht vor dem Staat und nicht umgekehrt.

Der IGH hat damit keineswegs allen Unabhängigkeitsbestrebungen von separatistischen Minderheiten einen Freibrief ausgestellt.

Aber er erinnert die Staaten daran, dass sie ihren Bürgern – und insbesondere nationalen Minderheiten – die Menschenrechte nicht wahllos beschneiden dürfen.

Wenn der Bogen überspannt ist – etwa weil eine nationale Minderheit in ihrer Existenz bedroht wird –, dürfen sich die Bürger gegen den Staat wehren und sich sogar für unabhängig erklären.

In dieser Hinsicht hat, so meine ich, der IGH mit seinem Kosovo-Gutachten Rechtsgeschichte geschrieben. Dafür ist ihm hohe Anerkennung zu zollen.
Klaus Purkott

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2010)
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