10. Oktober 2010

Lob des Anstößigen

Von nst_xy

Thilo Sarrazin und die Folgen
Deutschland schafft sich ab” ist ein anstößiges Buch. Thilo Sarrazin langt auf über 400 Seiten richtig zu, respektlos, zuweilen ressentimentgeladen, mit Lust an der Provokation – und hat damit auf anstößige Weise doch gerade einen Diskurs angestoßen, der sich nicht nur mit dem Thema „Integration” beschäftigt, sondern – viel grundsätzlicher noch – mit den Prozessen der Meinungsbildung in unserer Gesellschaft.

Längst ist die Auseinandersetzung mit der Sarrazinschen Streitschrift von der Frage nach der Deutungshoheit in Deutschland überlagert worden. Mit der zunächst bedauerlichen Konsequenz, dass das engagierte Plädoyer der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig für eine Rückbesinnung des Rechtsstaates auf sich selbst im Umgang mit Zuwanderern, ihre sachlich-leidenschaftliche, vor allem erfahrungsgesättigte Forderung nach einem „Ende der Geduld” nicht die Aufmerksamkeit erfahren hat, die sie verdient hätte. Schon Heisigs Titel fordert: Schluss mit einer fragwürdigen Lesart von „Toleranz”, die Geduld mit Duldungsstarre verwechselt.

Was wir stattdessen brauchen, ist eine kultivierte Unduldsamkeit, eine Spielart von Intoleranz, die als Gegen- oder Un-Wort die Rede von der Toleranz – das Mantra unserer Moderne – entzaubert.

Wir brauchen keinen Multi-Kulti-Kult romantisierter Fremd- oder Verschiedenheit, sondern eine Kultur des Anderen, Singulären, die mit der nüchternen Bestandsaufnahme und Behauptung des Eigenen beginnt.

Darin sind sich so unterschiedlich anstößige (und sprachmächtige) Denker einig wie der Philosoph Slavoj Zizek, der längst am Alleinvertretungsanspruch der parlamentarischen Demokratie zweifelt, sowie der notorische Quertreiber und Freigeist Henryk M. Broder, der eine scharfzüngige und ungeheuer unterhaltsame „Kritik der reinen Toleranz” verfasst hat, in der er den letzten Kick einer Spaßgesellschaft auf die Formel bringt: „Hurra, wir kapitulieren!”. Oder der Kulturwissenschaftler Norbert Bolz, der polemisch fragt: Gibt es überhaupt eine ernstzunehmende Gegenmacht zu dem Medienkartell der veröffentlichten Meinung? Gibt es eine Stimme oder Vielstimmigkeit, die vom allgemein verordneten Konsens, den Dogmen des „politisch Korrekten” abweicht, all dessen, was man sagen und denken darf, wenn man denn gehört werden will? Die einen Dissens, skandalträchtiges Unangepasstsein und damit Lebendigkeit verheißt, eine Lebendigkeit oder Leidenschaft, die mit dem „Ende der Geduld” – vor der anschwellenden Klangkulisse einer nicht mehr einfach nur schweigenden, sondern zunehmend unwillig murmelnden Mehrheit – für einen Neu-Anfang plädiert?

Dass die Nerven der Medienmogule blank liegen, zeigt ein Blick in einschlägige Talk-Shows (etwa das erbärmliche Tribunal der Sarrazin-Gegner Anfang September bei „Beckmann”, denen auch der Moderator gelegentlich als unbekümmerter Kombattant zur Seite sprang) oder auf die von Bolz genüsslich so genannten „neuen Jakobiner des Feuilletons”: Die politisch-publizistische Elite sieht ihre Pfründe bedroht. Und es reicht eben längst nicht mehr aus, von einer „Bundes-” als „bunte Republik” zu fabulieren und dabei von der munter aufspielenden Vorzeigetruppe der deutschen Kicker, ihren Khediras, Özils und Cacaus als diffusem Leitbild gelungener Integration zu schwärmen.

Was wir statt solch bundespräsidialer Tagträume benötigen, ist die Einübung einer – rechtsstaatlich legitimierten – Unduldsamkeit. Ganz im Sinne von Kirsten Heisig, deren Plädoyer für ein „Ende der Geduld” gerade im Blick auf das tragische Ende ihres Lebens uns alle neu in die Pflicht nimmt.
Herbert Lauenroth

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2010)
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