12. November 2010

Heimat Europa?!

Von nst_xy

Junge Leute aus Deutschland und Italien arbeiten an der ersten übernationalen Bürger-Partei. „Horizont Europa“ soll sie heißen.

Was bringt mir Europa?“ Die Frage in Russisch, Französisch, Türkisch, Italienisch und Deutsch gehört zum selbst gedrehten Werbeclip für eine junge Politikinitiative: Die Bürgerpartei „Horizont Europa“ soll entstehen. Auch Ipec Kolleoglu, Solingerin türkischer Abstammung, und der Italiener Tobia Bianco (Rom) fragen darin nach Sinn, Effizienz und den Grenzen der Europäischen Union: „Die EU ist keine schlechte Idee, aber wir müssen vor allem klären, was das mit uns zu tun hat.“

Ob Finanzsystem, Umwelt, Einwanderung oder Friedensverantwortung – in vielen globalen Fragen muss sich Europa künftig bewähren. Doch was junge Leute über Politik erfahren, turnt laut jüngsten Jugendumfragen eher ab. Gian Maria Giovanetti (33) begleitet die Jugendlichen aus Rom und Sizilien in der Initiative: „Wir wollen zeigen, dass auch wir Europäer sind und nicht nur die Politiker“. So abstrakt und indirekt funktioniert die Macht in Europa, dass von der Willensbildung an der Basis zum Schluss in der Gesetzgebung, die dann alle betrifft, kaum etwas übrig bleibt.

„Die da oben“ sind in Europa besonders weit oben. Umso spannender die Politik-Initiative „Heimat Europa“, die in 1400 Meter Höhe am Mendelpass in Südtirol in ein sechstägiges Sommercamp gipfelte: Das Starkmacher-Team Mannheim (s.u.) und das internationale „Forum Politik und Geschwisterlichkeit“ (s.u.) haben 40 junge EU-Bürger aller Schichten für ein überregionales Politikprojekt gewonnen. Nicht weniger als die mögliche Gründung einer ersten übernationalen Europa-Partei stand auf dem Programm.

„Es geht darum, ob Menschen aus den verschiedenen Nationen und Einwanderer in Europa eine gemeinsame Heimat finden können“, erklärt Katharina Messmann, Projektinitiatorin aus Mannheim. „Aber schon der Begriff ‚Heimat‘ ist eine Herausforderung: Es gibt ihn nur in der deutschen Sprache. Alle anderen Länder sprechen vom ‚Vaterland‘. Davon hat man nur eines. Aber zuhause kann man auch an mehreren Orten sein.“ Je zwei sehr unterschiedliche Gruppen aus Deutschland und Italien haben die Initiatoren im Vorfeld gewonnen: Von Solingen sind vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund mit von der Partie. Die Jugendlichen aus Mannheim kommen aus sozial schwachen Verhältnissen, einige haben gesundheitliche Einschränkungen, andere eine kriminelle Vorgeschichte.

Die Teilnehmer aus Rom und Sizilien sind älter als die deutschen, politisch interessiert und mit vergleichsweise viel politischem Vorwissen.

Alle vier Gruppen machen sich seit Anfang des Jahres in ihren Heimatstädten Gedanken zum Thema Europa, untersuchen die Geschichte und die Ist-Situation, erarbeiten Vorschläge und Strategien, was man europapolitisch ändern könnte.

Zurück zum Mendelpass: Sascha (19) aus Mannheim zeigt in seinem Einführungsvideo, wie weit weg EU-Politik manchmal ist, und ist gespannt, „wie wir Jugendlichen in dieser Woche die verschiedenen Puzzleteile zusammenkriegen.“

Sara Giusy aus Syrakus, Sizilien, hat mit einer Gruppe von Studenten und jungen Beamten ein Jahr lang die gegenwärtigen Schwächen des EU-Parteiensystems untersucht. „Es gibt ja nur Koalitionsparteien aus vielen, teils sich blockierenden Nationalparteien.“ So besteht etwa die Sozialistische Partei Europas PSE aus 33 verschiedenen Parteien in 28 Ländern, „und die Vertreter treffen sich nur zweimal im Jahr“, erläutert Sara den Workshopteilnehmern am Mendelpass.

Die multikulturelle Teilnehmergruppe aus Solingen hat eine Umfrage unter 250 Migranten-Schülern ausgewertet und gesehen, „dass es oft noch Vorurteile gibt, wodurch die Migranten unter sich bleiben. Das soll unsere Partei ändern“, sagt Ray Mirbach (17, Solingen), mit ghanaischem „Migrationshintergrund“.

Der malerische Hotelkomplex am Mendelpass in Südtirol mag seine besten Zeiten im 19. Jahrhundert gehabt haben, jetzt ist er filmreife Kulisse für das Sommercamp, in dem die vier Gruppen ihre Vorschläge zusammentragen und alles im Film festhalten.

Tobia, Anamaria und Federica, Politikstudenten aus Rom, stellen die Entscheidungsstrukturen der EU vor, keine leichte Kost für viele deutsche Teilnehmer, die einen weniger günstigen sozialen und Bildungs-Background haben. „Aber das ist Europa! Ich hätte nie gedacht, dass das auch mit der Unterschiedlichkeit in Alter und Bildung klappt“, meint Federica Chiaro (23) aus Rom. „Wir sind wie eine Fußballmannschaft. Alle fühlen sich ernst genommen, man hilft sich auf die Sprünge“, sagt auch Ceyhun Gülacan (16) aus Mannheim, einer von zwei Sehbehinderten, die hier normal behandelt und ganz mit herein genommen werden – Integration konkret.

Integration und das Europa-Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung 2010 sind ebenso Thema wie global relevante Vorschläge zum Umweltschutz.

Eine echte Herausforderung ist dabei die Zweisprachigkeit: Alle Beiträge müssen jeweils in Deutsch oder Italienisch übersetzt werden. Da ist Geduld gefragt, vor allem im Eifer der engagierten Diskussionen!

„Aber es hilft auch, besser zuzuhören und erst dann zu antworten, wenn der andere auch wirklich ausgeredet hat, und alles bei allen angekommen ist.“

Nach heftigen Debatten erklärt das Sommercamp am Mendelpass schließlich die dritte Säule der französischen Revolution – die Brüderlichkeit – zum akuten Mangelwert und zur übergreifenden Zukunftsidee: Die Geschwisterlichkeit, wie Brüderlichkeit heute meist bezeichnet wird, sei neben den Werten der Freiheit und Gerechtigkeit in der neuen Partei weiter zu entwickeln. „Wenn Politik diese Beziehung ist, wie wir es hier praktizieren, dann ist sie schön und kann die Welt verändern“, meint Tobia Bianco (27), ein junger Filmemacher aus Rom.

Der entscheidend originelle Ansatz der neuen Partei geht gleich auf’s Ganze: Die europäische Verfassung muss geändert werden. Denn „Horizont Europa“ will laut der vom jugendlichen Gründungsgremium am Mendelpass 2010 verabschiedeten Programmpräambel „eine Partei im herkömmlichen Sinne sein, allerdings mit Europadimension, und nicht nur Gefäß für nationale politische Gruppen,“ wie sie die gegenwärtige EU-Verfassung noch vorsieht. Dabei entspricht sie „dem Bedürfnis der Europabürger nach einer direkten, kontinentweiten Verbindung zwischen Wählern und Gewählten“, ohne die oftmals hinderliche Rolle der nationalen Parteien. Das bedeutet Sprengstoff! Vor allem, wenn sich wirklich aus dem Projekt junge, politisch fähige Akteure herauskristallisieren, die den neuen Ansatz auch über das EU-geförderte Projekt hinaus verfolgen.

Doch erst einmal muss die neue Partei auf sich aufmerksam machen. Über Facebook und andere soziale Netzwerke bleiben die Jugendlichen nicht nur nach ihrem Gipfel-Treffen am Mendelpass in Kontakt, dort werben sie auch für ihre Ideen. Außerdem plant die Mannheimer Gruppe einen Infostand auf dem Marktplatz, und die Solinger beraten im November mit einem Europapolitiker über ihr weiteres Vorgehen.

Bei ihrem ersten „Parteitag“ im März 2011 sollen die Ergebnisse vom Mendelpass dann ein breites Publikum von Politikern und Öffentlichkeit erreichen.

Wie das genau gehen soll, müssen die Jugendlichen noch überlegen. Aber sie sind zuversichtlich! Denn, wie Federica Chiaro unterstreicht: „Jetzt sind wir EINE große Gruppe, eine Familie, die in verschiedenen Städten lebt. UNSERE Partei ist entstanden: Wir sind ‚Horizont Europa‘, immer offen für alle, die sich anschließen möchten.“
Winfried Baetz

Die Starkmacher e.V.

Der Verein versteht sich als „Ideen- und Projektbörse von und für Menschen, denen die Förderung und Entfaltung von Potentialen in Jugendlichen am Herzen liegt“. Die Mitglieder möchten das Wertvolle und Gute in jungen Menschen sichtbar und für die Gesellschaft nutzbar machen. Dabei arbeiten sie mit Partnern aus unterschiedlichsten Lebens- und Arbeitsbereichen zusammen.

www.starkmacher.eu

Forum Politik und Geschwisterlichkeit

Das internationale Forum ist eine Initiative der Fokolar-Bewegung. Politikerinnen, Politiker und Politikinteressierte unterschiedlichster Parteizugehörigkeit entwickeln und fördern lokale, kommunale und nationale Projekte, die Impulse setzen für ein geschwisterliches Miteinander auf politischer Ebene. Zu den Zielen gehört es, Jugendliche an Politik heran zu führen und sie zum Engagement zu befähigen.

www.forum-politik-und-geschwisterlichkeit.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2010)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und Email finden Sie unter Kontakt.
© Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München