13. März 2011

Sesam, Kalif und neue Geschwister

Von nst_xy

Gabi Meisner wuchs in Berlin nur mit ihrer Mutter auf. Wer war ihr Vater? Ist sie ihm ähnlich? Mit 40 Jahren hat sie sich auf die Suche gemacht.

Wann ich anfing, nach ihm zu fragen, weiß ich nicht mehr”, erzählt Gabi Meisner. Der Vater lebt in Syrien, hatte ihr die Mutter erklärt. Der Elektro-Ingenieur Baha Eddine Sibai war 1955 beruflich für einige Monate nach Berlin gekommen und hatte sich in die blonde, hübsche 19-jährige Sekretärin verliebt. Er hatte sie mitnehmen wollen, als er nach Damaskus zurückging. Aber Gabis Mutter konnte sich damals nicht vorstellen, in einem fernen muslimischen Land zu leben.

„Als ich sieben Jahre alt war,” erinnert sich Gabi Meisner, „klingelte es an der Wohnungstür. Ein südländischer Herr wollte mit meiner Mutter sprechen. Ich musste in ein anderes Zimmer gehen.” Es war ein Freund des Vaters, der geschäftlich gerade wieder in Deutschland weilte. Er sollte eine Begegnung mit der deutschen Tochter arrangieren. Aber die Mutter lehnte ab. Sie fürchtete, er würde sie nach Syrien mitnehmen, meint Gabi Meisner heute.

Wenn die stets neugierige Tochter mehr von ihrem Vater wissen wollte, hieß es, er sei sehr intelligent. Aber die Mutter zeigte sich auch enttäuscht, dass er seine väterlichen Unterhaltspflichten nicht ausreichend wahrnahm. „Zur Zeit meiner Pubertät war ich stark in der pfarrlichen und überregionalen Jugendarbeit engagiert”, erinnert sich die 54-Jährige. Ihre sehr korrekte Mutter ärgerte sich über bestimmte damalige Charakterzüge wie ihre Unzuverlässigkeit: „Das hast du nicht von mir, sondern von deinem Vater.” Solche Vorwürfe gefielen Gabi: „Das muss ja ein toller Typ sein!”

Als Gabi 27 war, starb ihre Mutter.

„Sie wollte nicht, dass ich meinen Vater suche. Das hatte ich immer respektiert!” Doch die Sehnsucht nach dem Unbekannten, der sie offenbar so stark geprägt hatte, wuchs. Es dauerte noch 13 Jahre, bis sie die Suche nach ihrem Vater aufnahm: „Die erste Idee kam eines Nachts. Bei den Unterlagen meiner Mutter hatte ich Post von ihm gefunden und eine Adresse.”

Gabi rief die Auslandsauskunft an und fragte nach seiner Telefonnummer in Damaskus. Über Baha Eddine Sibai, wurde ihr gesagt, läge kein Eintrag vor.

Die Einbindung der deutschen Botschaft in Damaskus führte dann zu einem Ergebnis: „Man hatte herausgefunden, dass mein Vater 1979 verstorben war.” 49 Jahre war er geworden, genau so alt wie ihre Mutter. Sie würde ihn also nie persönlich kennenlernen, ihm nie in die Augen sehen, nie mit ihm sprechen können. „Diese Nachricht war für mich natürlich hart!”

Kein Grund jedoch für Gabi, das Handtuch zu werfen: Postwendend schrieb sie zurück, dass Baha Eddine Sibai doch Verwandte gehabt haben müsse, und bat, sie zu suchen. Tatsächlich wurde in Damaskus ein Lampengeschäft ausfindig gemacht, das einem Neffen ihres Vaters gehörte. Dorthin schickte Gabi ein Fax.

Nach zehn Tagen schließlich schrieb ihr ein Onkel, Bruder ihres Vaters, Rajaa Aldine al Sibai, in orientalisch-blumigem Stil: „Die ganze Welt kann sich mein Glück nicht vorstellen, dass eine Nichte von meinem verstorbenen Bruder Baha Eddine lebt.” Verbunden mit vielen herzlichen Glück- und Segenswünschen bot der Onkel an, Fotos und Erinnerungen vom Vater zu schicken, Gabi in seinem Haus in Syrien zu empfangen und mit ihren Geschwistern und Cousins bekannt zu machen. Gabi war überwältigt, glücklich und etwas furchtsam zugleich: Sesam, öffne dich – eine neue, geheimnisvolle Welt tat sich auf.

Aber welche Erwartungen werden die Verwandten an sie stellen? Gabi wollte sie unbedingt kennenlernen, sich der fremden Welt allerdings vorsichtig nähern. Daher gab sie den Anstoß für eine kirchliche Studienreise nach Syrien; dabei wollte sie den ersten Kontakt zu den Verwandten aufnehmen. Ihren Onkel Rajaa informierte sie über das Reiseprogramm.

Beim Landeanflug bot das nächtliche Damaskus mit den grünen Moscheen ein traumhaftes Bild. Und als sich die Flugzeugtür öffnete, umhüllte sie warme, orientalische Luft: paradiesisch! Am liebsten hätte sie den Boden geküsst.

Nach dem ersten Besichtigungstag wieder zurück im Hotel, übergab ihr ein Hotel-Boy die Nachricht, sie würde abgeholt. Als die Reisegruppe gerade zu Abend aß, „kam ein großer, dicker Mann, sah mich und lächelte. Ich wusste sofort: Der ist von meiner Familie!”

Der Cousin fuhr sie zu einer Farm außerhalb von Damaskus. „Dann kamen die arabischen Tante, Onkel, Cousins, Cousinen und viele Kinder auf mich zugestürmt, um mich zu begrüßen. Alle beäugten mich in meinem europäischen Outfit.” Es waren Momente großer Freude und Herzlichkeit. Die Enkel von Onkel Rajaa konnten Englisch und übersetzten.

Als Einzelkind hatte sich Gabi immer Geschwister gewünscht. „Es gab ein tolles arabisches Essen und der Onkel erzählte von meinem Bruder, einem Ingenieur, meiner Schwester, einer Richterin, von acht weiteren Halbgeschwistern. Und dass er ihnen sagen wird, dass ich in Syrien bin. Jetzt hatte ich also endlich meine große Familie!”

Gabi konnte es gar nicht erwarten, ihre Geschwister kennenzulernen. Als die Studiengruppe nach zehn Tagen nach Damaskus zurückkehrte, warteten ihre Schwester Gada und ihr Bruder Talal am Bus: Umarmungen, Küsschen; sie hatten sich viel zu erzählen. Gabi erfuhr, dass ihre Familie von einem großen Kalifen abstammt. Er hatte vor tausend Jahren in Marokko gelebt, und seine Nachkommen hatten sich über den ganzen arabischen Raum verteilt.

„Ich muss meinem Vater wahnsinnig ähnlich sein. Denn meine Schwester sagte, ich würde so gehen wir er, genauso schlafen wie er, genauso lachen, ich wäre eine Miniaturausgabe von ihm. Deswegen hatten sie nie den geringsten Zweifel, dass ich seine Tochter bin.”

Vom Vater geerbt hat Gabi Meisner offenbar noch mehr Wesenszüge: „Er soll sehr lustig gewesen sein, Gesellschaften unterhalten haben, er mochte Kinder und sie kamen gern zu ihm. Und in all dem finde auch ich mich wieder.” Die Mutter ihrer Halbgeschwister, seine andere Frau, ließ Gabi im Bett des Vaters nächtigen. „Zu wissen, dass er darin geschlafen und diese Möbel ausgesucht hatte, war ein tolles Gefühl für mich. Großartig war auch, dass die Mutter meiner Geschwister so viel Vertrauen zu mir hatte. Denn sie war natürlich eifersüchtig; die Briefe und die Fotos, die meine Mutter dem Vater geschickt hatte, hat sie alle zerrissen.”

Und heute? „Ich bin ruhiger geworden, erfüllter.” Der Vorwurf an den Vater „warum hast du mich verlassen?” hat an Schärfe verloren. Noch einmal hatte er versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, als sie zwanzig war. Ihr Vater hat sich für sie interessiert! Für Gabi war es wichtig, das von ihren Verwandten zu erfahren. Genauso, dass ihr Vater kein Playboy war, sondern ihre Mutter wirklich geliebt hat.

Gabi Meisner erzählt von einem Traum ihrer Schwester, den sie ihr anvertraut hat: „Sie ist in einem wunderschönen Frühlingsgarten, alles blüht, die Sonne scheint. Unser Vater kommt in einem grünen Gewand auf sie zu und bittet sie, sich neben ihn auf eine Bank zu setzen. „Ich bin so froh, dass alles gut geworden ist, Gada” sagt er.

Happy End einer Geschichte? Nein, sagt Gabi Meisner, denn die Beziehungen zu den Verwandten sind vielschichtig. Aber in ihnen, in dem fremden Land, der Kultur, der Religion ist sie ihrem Vater begegnet, wenn auch ganz anders als erwartet. „Das hat mein Leben unheimlich bereichert: Es war der Anfang einer Entdeckung, die noch nicht zu Ende ist.”
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2011)
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