20 Jahre “Wirtschaft in Gemeinschaft”
Bombe mit Langzeitwirkung
Eine neue Art zu wirtschaften, damit keiner mehr Not leidet. Als Fokolargründerin Chiara Lubich diesen Gedanken vor 20 Jahren in Brasilien äußerte, stieß er auf spontane Begeisterung. Danach folgten Phasen der Ernüchterung und der Klärung. Heute zählen sich weltweit 700 Betriebe zur „Wirtschaft in Gemeinschaft”; etwa 400 wissenschaftliche Arbeiten wurden darüber verfasst.
Es war einmal. So beginnen Märchen. Aber deren Handlung ist frei erfunden und weder zeitlich noch örtlich festgelegt. Also eigentlich kein Anfang für einen Artikel, in dem es um Wirtschaft geht. Aber weil Märchen wundersame Begebenheiten beschreiben, darf dieser Anfang vielleicht trotzdem hier verwendet werden: Geht es doch um eine Initiative, die zeigen will, dass eine menschliche Gesellschaft möglich ist, in der – nach dem Beispiel der ersten Christengemeinde in Jerusalem – keiner Not leiden muss.
Deshalb: Es war einmal im Mai 1991, im fernen Brasilien, dessen Bewohner sich sozusagen von Natur aus durch einen untrüglichen Sinn für soziale Gerechtigkeit auszeichnen.
Auch Chiara Lubich, die Gründerin der Fokolar-Bewegung, war bei einem Besuch betroffen von den sozialen Unterschieden, die sich ihr beim Landeanflug auf Sao Paulo in einem Bild einprägten: Riesige Armutsgebiete mit Hütten aus Wellpappe, die „Favelas”, umgeben das Meer von Wolkenkratzern der Metropole wie eine Dornenkrone. Und wie einen Stachel im Fleisch empfand die Fokolargründerin auch die Tatsache, dass die innerhalb der Bewegung praktizierte Gütergemeinschaft nicht einmal für die ihr nahe stehenden, Not leidenden Brasilianer ausreichte.
Bedrängt von dieser Sorge und inspiriert von der kurz zuvor veröffentlichten Enzyklika „Centesimus Annus” reifte eine Idee in Chiara Lubich: „Hier sollten Betriebe entstehen, deren Gewinne aus freiem Willen eingebracht werden mit dem für die christliche Gemeinschaft typischen Ziel: zuerst denen zu helfen, die Not leiden, ihnen einen Arbeitsplatz anzubieten und alles zu tun, damit es keine Bedürftigen mehr gibt.”
Mit der ihnen eigenen Begeisterungsfähigkeit nahmen ihre Zuhörer diesen Vorschlag auf. Alles gab man: Geld und Schmuck, Grundstücke und Häuser, Zeit und Arbeitskraft; aber auch Schmerzen und Krankheiten wurden angeboten, damit dieser „Traum” sich verwirklichen könnte. Von einer „Bombe” mit positiver Sprengkraft war die Rede, und sie beschränkte sich nicht auf Brasilien, sondern erfasste innerhalb kürzester Zeit die Fokolargemeinschaften weltweit. Der italienische Soziologe Tom- maso Sorgi sprach kurz darauf von der „Wirtschaft in Gemeinschaft” (WiG) als einem Gegenentwurf zum Kommunismus und unterstrich damit die charakteristischen Grundzüge der Initiative (s.u.).
In den ersten Jahren erlebte die WiG dann einen großen Auftrieb: Neue Betriebe wurden gegründet; bereits bestehende schlossen sich dem Projekt an und änderten den Stil ihrer Betriebsführung und die Verwendung ihrer Gewinne.
Dadurch sowie dank einer intensiven Gütergemeinschaft und spontanen Projekten konnte seither jährlich bis zu 11 000 Bedürftigen aus dem unmittelbaren Umfeld der Bewegung geholfen werden. Und so manchem Helfenden verursachte es Gänsehaut zu hören, mit welcher Würde diese die Hilfe annahmen und mit welcher Großzügigkeit sie dabei die Not anderer im Auge behielten und überlegten, was auch sie schenken konnten.
„Gegenseitigkeit” und „Kultur des Gebens” – das sind zentrale Eckpfeiler der „Wirtschaft in Gemeinschaft”. Mehr noch als ein Wirtschaftsmodell erwies sie sich seither als ein Lebensstil. Dabei durchlebte die Initiative durchaus Tiefen: Was bedeutete es, auf Freiwilligkeit zu setzen? Und was, das Prinzip der „Gemeinschaft” in den Betrieben umzusetzen? Wie war das genau zu verstehen mit der Aufteilung des „Gewinnes” für die drei Ziele? Warum nur gaben Betriebe auf, und weshalb griffen die idealistischen Ideen nicht überall?
Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte bei dem einen oder anderen zu Ernüchterung. Genauso wie die Erfahrung, dass Gemeinschaft in einem Betrieb nicht verordnet oder organisiert, sondern nur immer wieder neu gefördert werden kann. „Gemeinschaft verlangt Gegenseitigkeit, also die Bereitschaft aller Beteiligten, sich darauf einzulassen”, erklärt Luigino Bruni.
Der Wirtschaftsdozent und Koordinator der WiG weltweit unterstreicht, dass es bei der Initiative um ein neues Verständnis von Wirtschaft, Arbeit, Markt, Entwicklung und Globalisierung geht.
Und Wirtschaftsprofessor Stefano Zamagni aus Bologna spricht im Zusammenhang mit der WiG oft von „kreativen Minderheiten”. Betriebe, die sich an diesen Prinzipien ausrichten, stellten vielleicht noch lange nicht die Mehrheit der Betriebe, trotzdem seien sie unerlässlich, um zu zeigen, dass ein anderer Unternehmens- und Wirtschaftsstil notwendig ist.
Im September 2010 zählten sich 797 Betriebe unterschiedlicher Größe zur WiG: 506 in Europa (davon 242 in Italien), 226 in Südamerika, 34 in Nordamerika, 25 in Asien und sechs in Afrika. Seit dem Jahr 2000 haben sich jährlich im Schnitt etwa 20 Betriebe neu angeschlossen. Im Januar 2011 erlebte die WiG einen Durchbruch auf dem afrikanischen Kontinent: Eine internationale Konferenz, die von der Katholischen Universität für Ostafrika (CUEA) in Zusammenarbeit mit der Fokolar-Bewe- gung in Nairobi organisiert wurde, endete mit der Gründung eines Studienzentrums zu wirtschaftlichen Fragen und der Planung eines „Gewerbeparks” (s.u.), für den es bereits 15 interessierte Unternehmen und erste Finanzmittel gibt.
Das alles darf man durchaus als untrügliche Zeichen verstehen, dass die WiG auch nach 20 Jahren noch fasziniert und die in Brasilien geplatzte „Bombe” mit einer erheblichen Langzeitwirkung ausgestattet ist.
Gabi Ballweg
Die Wirtschaft in Gemeinschaft (WiG)
ist ein Projekt von Unternehmern, Arbeitern, leitenden Angestellten, Verbrauchern, Wirtschaftstheoretikern, Aktionären, … Tragende Säulen sind Betriebe, die sich auf freiwilliger Basis dazu
verpflichten, ihren Profit für drei gleichwertige Ziele einzusetzen:
- Einzelpersonen und Gruppen zu unterstützen, die der Hilfe bedürfen, entsprechend eines prinzips, das auf Gemeinschaft und Gegenseitigkeit gründet.
- eine „Kultur des Gebens” und der Gegenseitigkeit zu fördern und zu verbreiten, ohne die eine „Wirtschaft in Gemeinschaft” nicht zu verwirklichen wäre.
- das eigene Unternehmen so weiterzuentwickeln, dass es überlebens- und konkurrenzfähig bleibt.
Die WiG
- geht aus einer gemeinschaftlichen Spiritualität, der „Spiritualität der Einheit” hervor;
- verbindet Effizienz und Produktivität mit Geschwisterlichkeit;
- unterhält Gewerbeparks, in denen das Projekt anschaulich wird;
- setzt auf kulturelle und geistliche Kräfte, um wirtschaftliches Handeln zu verändern;
- sieht die Armen nicht in erster Linie als Problem, sondern als wertvolle Ressource für das Gemeinwohl.
Gewerbeparks
Zu den Grundelementen der ursprünglichen Intuition gehören die Gewerbeparks: Chiara Lubich machte den Vorschlag, in der Nähe der Fokolar-Siedlungen WiG-Betriebe zu versammeln, damit der Geist des Projekts immer lebendig bleibt. Sie sollten ein sichtbares Zeichen sein und ein ideeller wie auch konkreter Bezugspunkt für andere WiG-Betriebe.
Derzeit existieren sieben Gewerbeparks: in Italien, Argentinien, Kroatien, Belgien, Portugal und zwei in Brasilien. Weitere Gewerbeparks sind in Kenia, auf den Philippinen und Brasilien in Planung.
Die WiG in Kultur und Wissenschaft
Seit der Entstehung 1991, als Chiara Lubich die Jugendlichen der Bewegung einlud, ihre „Energien für dieses Programm einzusetzen”, gibt es einen regen Erfahrungsaustausch zwischen Praxis und Theorie, vor allem in den Bereichen Wirtschaftswissenschaften, Theologie, Soziologie und Philosophie. Etwa 400 wissenschaftliche Arbeiten wurden seither geschrieben. Über 300 davon, aus 28 Ländern und in 14 verschiedenen Sprachen, sind auf einer Homepage einsehbar: http://www.ecodicom.net/
Chiara Lubich hat wegen der WiG mehrere Ehrendoktorate erhalten. An den Universitäten von Maracafbo in Venezuela und an der Bicocca von Mailand steht die WiG auf dem Lehrplan des Magisterstudiengangs Wirtschaftwissenschaften.
Zahlreiche Wirtschaftswissenschaftler – vor allem in Italien und Südamerika – wurden auf die Idee aufmerksam, nicht zuletzt nachdem Papst Benedikt XVI. sie in seiner Enzyklika „Caritas in veritate” ansprach (Artikel 46).
Weitere Infos auf http://www.edc-online.org/; bisher noch italienisch und englisch, die deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung.
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2011)
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