18. Juni 2011

Keine Mauern gegen Flüchtlinge

Von nst_xy

An die EU-Innenminister

Sehr geehrte Damen und Herren,
immer wieder versuchen Afrikaner, dem Krieg in Libyen zu entfliehen; geraten hoffnungslos überfüllte Boote in Seenot; spielen sich an der Küste von Lampedusa dramatische Szenen ab, wenn völlig entkräftete Überlebende die kleine italienische Insel erreichen. Geben wir ihnen eine Chance!
Es sind Tunesier, Algerier, Ägypter, die unter der unsicheren Übergangssituation ihrer Länder leiden. Andere stammen aus Eritrea, Somalia, Sudan, Tschad, Nigeria und haben eine lange Odyssee hinter sich. Aus Krisengebieten geflohen, wurden sie vom Gaddafi-Regime abgefangen und in menschenrechtswidrige Lager gesperrt. Einige von Ihnen hatten das offenbar mit dem Diktator vereinbart.
Für die unsichere Überfahrt haben diese Menschen in ihrer Verzweiflung Unsummen bezahlt. Sie stecken in der Zwickmühle: zwischen dem langen Rückweg in eine Heimat, wo sie nicht überleben können, und der gefahrvollen Reise nach Europa, wo sie nicht willkommen sind.
Kürzlich sollen 70 in Seenot geratene Menschen gestorben sein, weil Kriegsschiffe ihnen die Hilfe verweigerten. Eine schockierende Nachricht: Wo Mitmenschlichkeit aufgegeben und Leben so wenig geachtet wird, geht die Abschottung Europas eindeutig zu weit!
Viele von Ihnen haben Ihren italienischen Kollegen mit dem Problem alleingelassen. Mag sein, dass Italien die bisherige Zahl der Flüchtlinge problemlos aufnehmen kann. Angesichts der Nationalisierungstendenzen in Ländern wie den Niederlanden, Dänemark und Finnland ist die mangelnde Solidarität jedoch ein falsches Signal. Damit fühlen sich die Rechtspopulisten in ihrer Engstirnigkeit doch nur bestätigt.
Sie erwägen, einen Massenansturm zu verhindern, indem Sie längst abgeschaffte Grenzkontrollen wieder einführen. Zur Abschreckung, heißt es: Wenn wir die Flüchtlinge aufnehmen, werden immer mehr nachkommen, so die Argumentation. Die Zahlen jedoch zeigen, dass bis Mitte Mai nicht einmal 40.000 Flüchtlinge versucht hatten, europäische Küsten zu erreichen. Von einem Massenansturm kann also keine Rede sein. Der Internationalen Organisation für Migration in Genf zufolge haben sich rund 100.000 nach Algerien, Niger, Tschad und Sudan
aufgemacht und etwa 700.000 nach Tunesien und Ägypten. Wenn Sie die Zahlen vergleichen, scheint die Angst um die EU-Grenzen dann nicht ein bisschen übertrieben?
Wir wünschen uns, dass Sie Flüchtlingen in Not eine Chance geben! Unterstützen Sie den Demokratisierungsprozess in Nordafrika, indem Sie sich untereinander einigen, wer wie viele Flüchtlinge aufnimmt. Überlassen Sie sie nicht ihrem Schicksal, sondern ermöglichen Sie ihnen faire Asylverfahren!
Wir wünschen uns, dass sich die EU-Länder dafür einsetzen, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern; das Bildungs-und Gesundheitswesen zu stärken; dass sie darauf achten, dass finanzielle Unterstützung nicht zum Waffenkauf missbraucht wird, bei korrupten Unternehmen landet oder in den Taschen von Regierungsmitgliedern versickert.
In Europa sind Arbeitslosigkeit, Krankheit und Armut wesentlich kleinere Probleme als in Afrika. Hier müssen die wenigsten täglich um Wasser, erschwingliche Nahrungsmittel oder die medizinische Grundversorgung kämpfen. Europa kann sich daher nicht auf dem Wohlstand ausruhen, ihn zugleich aber einem Großteil der Menschheit verweigern. Es ist Zeit, dass wir den Menschen helfen, denen es schlechter geht! Es ist Zeit, uns mit Afrika zu solidarisieren, ohne es von uns abhängig zu machen!

Mit freundlichen Grüßen
Clemens Behr
mit der ganzen Redaktion der NEUEN STADT

Unser Offener Brief richtet sich
an die Innenministern der 27 EU-Staaten. Beim EU-Gipfel am 24. Juni soll eine Reform der Grenzkontrollen beschlossen werden.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2011)
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