16. Juli 2011

Hinter der Mauer

Von nst_xy

Am 13. August vor fünfzig Jahren begann der Bau der Berliner Mauer. Kurz zuvor waren einige junge Leute in der DDR auf die Fokolar-Bewegung gestoßen. Beide Ereignisse hatten einschneidende Folgen für ihr Leben.

Es war alles schon geplant. Roswitha, damals Anfang 20, wollte abhauen in den Westen, mit Eltern, Bruder und kleiner Schwester. Beyers stammten aus Merseburg; Roswitha hatte ihr Examen in einem Kindergärtnerinnenseminar in Berlin gemacht.
Der für ihre Ausbildung verantwortliche Prälat Johannes Zinke hatte zu einem Klassentreffen Natalia Dallapiccola eingeladen. Sie hatte mit Chiara Lubich in Trient die Gründungszeit der Fokolar- Bewegung erlebt und 1960 in Westberlin eine Fokolargemeinschaft von Frauen eröffnet. „Was Sie jetzt hören, ist für mich wie ein neues Pfingsten in der Kirche”, hatte Zinke angekündigt. Natalia Dallapiccola erzählte von den Jahren ab 1943 in Trient, dem Leben nach dem Wort Gottes und seinen Folgen, der erfahrenen Gemeinschaft.

„Ich war wie vom Blitz getroffen,” erinnert sich Roswitha Beyer, „unbeschreiblich! Hier sah ich eine Möglichkeit, mich für Gott und die Kirche einzusetzen.”

Mutter und Schwester hatten schon offiziell in die Bundesrepublik einreisen können. Nach der Begegnung mit Natalia hatte sich Roswitha jedoch entschieden, im Osten zu bleiben, ein schmerzlicher, von der Familie nie ganz verstandener Entschluss. Vater und Bruder, die ihr ganzes Hab und Gut zurückließen, brachte sie noch an die Grenze. Das war Mai/Juni ’61. In den folgenden 23 Jahren sah Roswitha ihre Angehörigen zweimal: 1973, als ihr Bruder einen Unfall hatte, und 1975 zur Beerdigung ihres Vaters.
Im Erfurter Priesterseminar hatte Professor Heinz Schürmann den
Theologiestudenten schon ’59 von der Fokolar-Bewegung erzählt, die er über Pfarrer Hans Heilken- brinker in Westfalen kennengelernt hatte. „Einige von uns waren angetan und neugierig, was das ist”, erzählt Paul Christian. Im nächsten Jahr besuchten Seminaristen und Professoren die Fokolarinnen in Westberlin, darunter Natalia Dal- lapiccola. „Wir staunten, wie sie – eine einfache Frau – den hochgebildeten Professoren erklärte, wie man Gott lieben kann, wie man seinen Willen erkennen und in die Tat umsetzen kann.”
Von diesem Besuch fuhren die Seminaristen „mit einer Riesenfreude im Herzen” zurück nach Erfurt. „Wir sahen bei den Grenzkontrollen sogar in den Polizisten Nächste, die es zu lieben galt”, erinnert sich Paul Christian. „Bisher hatten wir sie diffamiert und eher
hochmütig behandelt, weil wir gegen die DDR-Ideologie waren, die sie verkörperten.”
Wolfram Zilske war damals 19 und wohnte in einem katholischen Heim. „Laudetur Jesus Christus”, so weckte ihn normalerweise sonntags ein Pater. Am 13. August ’61 rüttelte der Ordensmann seine Jungs wach:
„Die haben über Nacht die Grenze zugemacht!” Wolfram antwortete schlaftrunken: „Herr Pater, das ist eine RIAS-Ente (Falschmeldung vom Rundfunk im amerikanischen Sektor, Anm. d. Red.), das kann nicht wahr sein!”
Um sich selbst ein Bild zu machen, ging Wolfram zum Bahnhof Friedrichstraße: „Und tatsächlich, die Leute waren wie ein aufgeregter Ameisenhaufen. Man erzählte von Familien, die durch das Schließen der Grenze getrennt worden waren.”
Am Brandenburger Tor stand eine Reihe bewaffneter Kampfgruppen. 500 Meter entfernt hatten sie Richtung Reichstag Sperren mit Eisenträgern und Stacheldrahtrollen errichtet.

Dort stand nur ein einziger Soldat. Wolfram fragte sich, ob der tatsächlich abdrücken würde, wenn er jetzt weiterginge Richtung Westen?

Im April am Karfreitag zuvor hatte er erstmals von den Fokolaren gehört. Sein Freund, Pfarrer im Eichsfeld, hatte ihm davon erzählt. Als sie im Restaurant vor dem Essen ein Kreuzzeichen machten, hatten sich Leute über sie lustig gemacht. Die Fokolare „lieben Jesus den Verlassenen und kommen gut mit den Kommunisten aus,” hatte der Priester gesagt und Wolfram beim Abschied die Adresse vom Westberliner Fokolar in die Hand gedrückt: „Geh mal hin, du wohnst doch in Berlin!”
Die Begegnung mit Natalia Dallapiccola machte auf ihn einen ähnlich starken Eindruck wie auf Roswitha Beyer: „Ich war 16 Jahre lang in katholischen Kinderheimen aufgewachsen, hatte also eine christliche Erziehung, aber so hatte mir noch niemand von Gott erzählt! Es war wie eine Explosion von Licht in meiner Seele, das mich nicht mehr los ließ.” Von da an ging Wolfram einmal die Woche ins Frauenfokolar. Das Fokolar der Männer öffnete im April ’61.
Damit sie diese neue Bewegung tiefer kennenlernen konnten, wurden Wolfram Zilske und Christian Heitmann zu einem Treffen nach Rom eingeladen. Von der DDR bekamen sie keinen Pass; sie konnten nur illegal bei der Westberliner Polizei einen Reiseantrag stellen. Auf der Rückfahrt nach Ostberlin geriet Christian in der U-Bahn in eine Ausweiskontrolle: Sie entdeckten den Antrag; er wurde mitgenommen und verhört. „Mehrere Jahre lang hat die Stasi ihn immer wieder vorgeladen”, erzählt Wolfram. „Sie haben versucht, ihn unter Druck zu setzen und zu werben, aber er ließ sich nicht darauf ein. In dieser Zeit hatte er keinen Kontakt mehr mit uns, um die anderen Fokolare nicht zu gefährden.”
War nun der 13. August das Ende? Sollte er nun weitergehen? Würde der Soldat schießen? „Ich wollte vom 11. Lebensjahr an Priester werden und im Osten bleiben”, sagt Wolfram. „Nun wollte ich die Probe aufs Exempel machen. Gott, hab ich da gebetet, es ist ziemlich unfair, die Mausefalle zuschnappen zu lassen. Wenn die Fokolare sagen, fahr nach Rom, fahr ich hin, wenn sie sagen, geh zurück in den Osten, nehm ich das als Zeichen.” Auf der Westseite konnte er schon viele Menschen mit Ferngläsern sehen. An dieser Stelle war noch kein Zaun, keine Mauer errichtet. Der Soldat und Wolfram standen sich gegenüber und musterten sich. Und Wolfram ging „rüber”.
„Was willst du denn hier? Du gehörst doch in den Osten!” begrüßte ihn ein Fokolar. „Danke,” dachte Wolfram, „damit wurde mein Stoßgebet ja schnell erhört!” Er setzte sich in die U-Bahn und fuhr zurück nach Ostberlin. „Und dann bin ich 26 Jahre nicht mehr ‘rausgekommen.”

Roswitha Beyer arbeitete unterdessen in einer katholischen Einrichtung und hatte einen guten Draht zu Alfred Bengsch, der kurz nach dem Mauerbau Bischof des geteilten Berlins, Brandenburgs und Vorpommerns wurde und seinen Sitz in Ostberlin hatte.

Bengsch schätzte die Fokolar- Bewegung. Im Herbst erzählte Roswitha ihm, die Gründerin Chiara Lubich sei gerade in Berlin und wolle ihn sprechen. „Lass se kommen, morgen um elfe!”
„Es war eine unwahrscheinlich herzliche Atmosphäre”, erinnert sich Roswitha Beyer. Chiara erkundigte sich nach seinen Sorgen. „Große Probleme haben wir mit den katholischen Krankenhäusern”, antwortete der rustikale Berliner. Ärzte waren in Scharen in den Westen gegangen, die Versorgung der Kranken war gefährdet. Chiara Lubich verspach, vier italienische Fokolarinnen und Fokolare zu schicken. Drei gingen nach Ostberlin ins Hedwig- und einer nach Erfurt ins Nepomuk-Krankenhaus. Zwei arbeiteten bereits seit Mai ’61 im Elisabeth-Krankenhaus in Leipzig.
Dass Chiara Lubich der Osten so am Herzen lag, ist aus ihrer Spiritualität der Einheit zu verstehen. In Deutschland zeigten sich zwei Gesichter der Uneinheit: Die konfessionelle und die politische Trennung. Jesus hat durch das Leiden und den
Tod am Kreuz die Trennung von Gott-Vater erlebt, durch die Auferstehung aber überwunden. Entsprechend wollten sich die Fokolare bewusst in diese „Uneinheit” begeben, um sich für ihre Überwindung einzusetzen.
Als Paul Christian Regens auf der Huysburg bei Halberstadt war, bewegte sich einmal eine Gruppe junger Pfarrer sehr nah an der Grenze zu Niedersachsen und provozierte die DDR-Grenzposten. Er bekam daraufhin Besuch von einem Stasi-Offizier. „Ich habe gesagt, meine Linie ist eine andere, nämlich korrekt und freundlich mit jeder politischen Instanz umzugehen.” Der Offizier sah eine Chance und bat Paul Christian: „Ich bin der Kontaktoffizier zur Kirche im Bistum Magdeburg, verstehe aber viele kirchliche Begriffe nicht: Können Sie mir nicht helfen? – Erst hatte ich aus Nächstenliebe zusagen wollen,” erzählt Paul Christian. „Auf einmal jedoch witterte ich eine Falle und habe nicht reagiert. Heute weiß ich: Hätte ich Ja gesagt, wäre ich in diesem Augenblick IM (Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi) geworden.”
Hinter der Mauer zog das Leben Kreise, das Natalia Dallapiccola und andere in den Osten Deutschlands getragen hatten. Von dort breitete es sich nach Osteuropa aus; Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn kamen in die DDR und nahmen an den Sommertreffen teil, bevor es diese „Mariapolis” in ihren Ländern gab. Höhepunkte waren Begegnungen in den 70er und 80er Jahren in Erfurt und Magdeburg mit bis zu 1000 Teilnehmern.
Und im Rückblick? Dass die Fokolar-Bewegung in der DDR unter dem Schutz der katholischen
Kirche agieren konnte, hat ihr gewisse Freiheiten gegenüber dem Regime gelassen und ihre Ausbreitung ermöglicht.

„Ich habe nie bereut, im Osten geblieben zu sein, und würde heute genauso handeln wie damals”, meint Roswitha Beyer.

„Bei allem Unrecht und allem Leid, das der Eiserne Vorhang gebracht hat, war damit aber auch eine große Gnade verbunden: Es hat die Kirche zusammengeschweißt. Und eine solche Familiärität, wie wir sie in der Zeit der Mauer innerhalb der Bewegung miteinander gelebt haben, war schon etwas Besonderes”.
Clemens Behr

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juli/August 2011)
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