24. Mai 2012

Anker und Kraftquelle

Von nst1

In protestantischen Kirchen bekommen Jugendliche zur Konfirmation ein Wort aus der Bibel mit auf den Weg. Manche entdecken darin einen Schatz, der sie ein Leben lang begleitet.

Als ich meinen Bibelvers in der Hand hielt, war ich entsetzt!“ Der Pastor hatte für Luise Böke den Spruch ausgesucht: „Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.“ 1) „Ich hörte nur das Wort Gesetz. Und hatte in meinem Elternhaus so viele Gesetze zu erfüllen, dass mich dieser Spruch nicht interessiert hat und ich ihn gleich in die Schublade gesteckt habe.“ Die damals 15-Jährige war enttäuscht. Sie hatte sich etwas Mutmachendes erhofft.

Erst mit etwa 20 Jahren gewann der christliche Glaube für Luise Böke an Bedeutung. Er gab ihrem Leben Sinn. „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ 2) Mit diesem Taufspruch hat sie die nächsten Jahre bewusst gelebt. „Mit 30 merkte ich, ich bin nicht in der Lage, Gott zu genügen“, erinnert sich die heute 50-Jährige aus Vechta, „ich mache Fehler, verletze andere, weiß manchmal nicht weiter. Ich bin in einer Gesetzlichkeit gefangen, die mit dem Wort Gottes nicht übereinstimmt.“ Beim Ausdruck „Gesetz“ kam ihr der Konfirmationsspruch wieder in den Sinn. Auf einmal interessierte sie der Zusammenhang, in dem er steht, und sie las den Römerbrief. „Ich hab verstanden, dass Gottes Liebe unendlich ist, dass Jesus für jeden einzelnen Menschen gestorben ist zur Erlösung. Dass Gott weiß, dass wir unvollkommen sind, aber hinter seinem gütigen Blick verschwindet unsere Fehlbarkeit.“ Erst 15 Jahre nach der Konfirmation wurde für sie der Spruch zum erlösenden Wort. „Ich merkte: Andere Menschen haben mich nicht zu beurteilen. Dass macht ganz allein Gott. Und er fragt nicht nach meinen Leistungen oder meiner Korrektheit, sondern guckt nach meinem Herzen.“

Luise Böke spürte eine neue innere Freiheit: „Ich bin barmherziger geworden anderen Menschen gegenüber. Sie dürfen so sein, wie sie sind. Ich muss niemanden verändern oder erziehen. Das bewirkt wieder, dass andere Menschen freier mir gegenüber sind, weil ich keine Erwartungen an sie stelle.“

Auch Pastor Jörg Schlüter, geboren 1946, hat als Jugendlicher nichts mit seinem Konfirmationsspruch anfangen können: „Also sollt ihr vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ 3) Das empfand er als totale Überforderung. „Denn dass ich nicht vollkommen bin, hatte ich schon relativ früh rausgekriegt“, sagt er schmunzelnd. 13 Jahre lang war er evangelischer Pfarrer in Vechta, bis er im letzten September in den Ruhestand ging. Aber auch danach ist er noch stark in der Gemeinde aktiv. „Der Konfirmationsvers ist ein Segensspruch“, erläutert Pastor Schlüter, „auf Hoffnung, auf Zukunft des Lebens ausgerichtet. Ein positives Wort, das dich immer wieder an die Hand nimmt und aufbaut.“

Heute ist es in den evangelischlutherischen und den reformierten Kirchen üblich, dass sich die Konfirmanden ihren Bibelspruch aus einer langen Liste von Vorschlägen selbst auswählen. Nur ein einziges Mal war Jörg Schlüter mit der Wahl nicht einverstanden: „Dieser Bursche hatte sich ausgesucht: „Herr, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt.“ 4) Er hatte aber in seiner Konfirmandenzeit kaum einen Gottesdienst besucht. Also, das muss schon irgendwie passen!“

Zuweilen wundert sich Pastor Schlüter, wenn junge Leute mit Sprüchen ankommen wie: „Sei getreu bis in den Tod, so werde ich dir die Krone des Lebens geben.“ 5) „Denn welcher Jugendliche denkt heute so?“ Später erfährt er dann: Den Vers hatte schon die Oma zu ihrer Konfirmation bekommen, und aus Familientradition hat sie ihn auch dem Enkel ans Herz gelegt. „Dann wieder gibt es Jugendliche, da weißt du genau, die sind über die erste Seite der Sprücheliste nicht hinausgekommen. Alle fünf Seiten zu lesen, das war ihnen zu mühsam.“

Nur wenn die Konfirmanden bis zum festgesetzten Termin keinen Vorschlag einreichen, wird Jörg Schlüter selbst aktiv. In den zwei Vorbereitungsjahren lernt er die 13-, 14-Jährigen gut kennen und versucht, bei der Wahl des Spruches auch die Situation der Familien zu berücksichtigen. „Wenn ich weiß, einer hat es zu Hause nicht leicht, weil der Vater streng ist, suche ich ein Wort aus, das von der Liebe Gottes zu den Menschen erzählt.“

Hauke Hahn, 17, hat die Liste erstmal allein durchgearbeitet. 10 bis 15 Verse zog er in die engere Wahl, über die beriet er sich dann mit seiner Mutter. Schließlich entschied er sich für: „Wachet, steht fest im Glauben, seid mutig und stark! Lasst alles in Liebe geschehen.“ 6) „Was mich gereizt hat, war dieses ,Seid mutig und stark‘: weil das ein Ratschlag ist, nach vorne zu gucken und den Mut nicht zu verlieren.“ Aber auch der Nachsatz ist ihm wichtig: „Er bedeutet, bei meinem eigenen Handeln die anderen nicht zu vernachlässigen.“

Seit Hauke Hahn das Wort zu seinem Lebensmotto gemacht hat, ist er selbstbewusster geworden. „Wenn etwas passiert, was nicht so toll ist, wenn sich die Freundin von einem trennt, dann ist das mein Anker: nicht aufgeben, nicht verzweifeln, sondern auf Gott vertrauen und daraus Kraft aufnehmen.“

Helga Mross ist schon 88 Jahre alt. Aber an ihre Konfirmation erinnert sie sich noch, als sei sie gestern gewesen. Als Pastor Schlüter sie nach dem Konfirmationsspruch fragt, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: „Christus spricht: Ich bin der gute Hirte.“ 7) „So stand’s in meiner Konfirmationsurkunde. Und mein Konfirmationsbild hab ich auch noch!“

Bei der Frage, wann der Vers in ihrem Leben besonders zur Geltung gekommen ist, denkt sie zuerst an die Vertreibung aus Schlesien Ende des Zweiten Weltkriegs: „Die Front rückte von Russland näher, wir mussten flüchten, im Pferdewagen, mit wenigen Habseligkeiten. Es war Winter, bitterkalt. Und immer die Angst! Da gab es immer wieder Momente, da hab ich dieses Behütetsein erfahren: Christus ist unser Hirte! Und wir sind ja auch unbeschadet angekommen.“

In Vechta musste die Familie aus dem Nichts neu anfangen. Auf ihrem Bauernhof in Schlesien war der Vater sein eigener Herr gewesen, hier nur ein Knecht. Helga Mross steigen bei der Erinnerung an die harten Zeiten die Tränen in die Augen. Sie haben viel geschuftet und nicht über ihr Schicksal gejammert: „Wir hatten ein inneres Zuhause, das uns die Ruhe und die Kraft gab: Jesus, der gute Hirte.“

Thomas Byza ist Jahrgang 1954. Während des Konfirmationsunterrichts hatte er reichlich Blödsinn im Kopf. „Aber der Pastor bezog uns auch mit ein. Zum Beispiel haben wir selbst einen Gottesdienst gestaltet, was damals sehr fortschrittlich war.“ Jörg Schlüter empfindet Byza, der sich stark in der Kirche engagiert, als Segen für die Gemeinde. „Ich will dich segnen, und du sollst ein Segen sein“ 8): Diesen Konfirmationsspruch hat sich Thomas Byza damals ausgesucht. Eine Zeitlang hatte er eine Pfadfindergruppe geleitet; die Jungen waren traurig, als er dieses Engagement aufgeben musste. Jahre später rief ihn ein ehemaliger Pfadfinder an, um zu sagen, wie schön und wichtig diese Zeit für ihn war. „Man hat den Jugendlichen etwas gegeben, mit ihnen Dinge gemacht, die sie so nicht erlebt hätten. Insofern könnte ich also für den ein oder anderen tatsächlich ein Segen gewesen sein.“

Jörg Schlüter war noch ein junger Pfarrer, da stieß er auf ein Sprichwort, das sein Verständnis biblischer Worte radikal veränderte: „Das, was du tust, redet lauter als das, was du sagst.“ „Es ist nicht die Predigt, von der man denkt, heute hat der Geist Gottes aber zugeschlagen. Nee, es ist die Umsetzung in den Alltag, die dem Wort Lebendigkeit verleiht. Und da ist die Familie ein Übungsfeld ohnegleichen und die Gemeinde natürlich auch.“

Noch stärker nimmt Gottes Wort die Menschen mit auf die Reise des Glaubens, wenn sie es miteinander leben, ist Jörg Schlüter überzeugt. Um unter den Konfirmanden den Austausch über das Wort in Gang zu bringen, fängt Pastor Schlüter oft selbst an, Beispiele zu erzählen, wie er das lebt, was da in der Bibel steht. „Dass sie merken: Wenn das Wort nur ein Gedanke im Kopf bleibt, ein diskutierwürdiges Objekt, dann hilft es uns nicht weiter, auf Gott-Vater hin und aufeinander zu zu wachsen.“

Clemens Behr

1) Römer 10,4 – 2) Jesaja, 43,1 – 3) Matthäus 5,48 – 4) Psalm 26,8 – 5) Offenbarung 2,10 – 6) 1 Korinther 16,13-14 – 7) Johannes 10,11 – 8 ) 1 Mose 12,2

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2012)
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