24. Mai 2012

Thein Sein, Staatspräsident von Myanmar

Von nst1

Betrifft: Von der Militärdiktatur zur Demokratie

Sehr geehrter Herr Staatspräsident,

Sie ließen über zweihundert politische Gefangene frei, schafften offiziell die Todesstrafe ab, verringerten die Zensur, versuchen eine Aussöhnung mit ethnischen Minderheiten und ebneten der Oppositionsführerin und Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi nach 15 Jahren Hausarrest den Weg zurück in die Politik: Die Reformen, die Sie nach 50 Jahren Militärdiktatur auf den Weg bringen, geben Hoffnung. Die Anzeichen für einen Wandel in Richtung Demokratie und wirtschaftliche Öffnung bewirken eine Aufbruchstimmung in Ihrem Land, die uns freut!

Im Dezember erließen Sie ein Gesetz, dass erstmals wieder Demonstrationen erlaubt, sofern sie mindestens fünf Tage vorher angemeldet werden und den Verkehr nicht behindern. Noch bei der Safran-Revolution 2007 hatte das Regime Proteste brutal niedergeschlagen. Die Bilder von mutig demonstrierenden buddhistischen Mönchen und Nonnen stehen uns noch lebhaft vor Augen.

Es heißt, die gewaltigen Zerstörungen durch den Wirbelsturm Nargis im Mai 2008 hätten zur Öffnung beigetragen: Myanmar war mit der Katastrophe überfordert und auf Hilfe von außen angewiesen, und die Welt sah, welche Armut herrscht. Folgerichtig schließt der Prozess der sogenannten „kontrollierten“ oder „disziplinierten Demokratie“ die Öffnung des Finanz- und Wirtschaftssektors mit ein: Sogar der Aufbau einer Börse ist geplant.

Die Reformen erstaunen insofern, als Sie selbst unter der Militärjunta Karriere gemacht haben und der damalige Staatschef Than Shwe Sie 2007 zum Premierminister ernannte, der heute zwar kein politisches Amt mehr innehaben, aber noch das Militär leiten soll. Einerseits macht uns skeptisch, dass Mitglieder der damaligen Elite weiterhin bedeutende gesellschaftliche Positionen einnehmen: Wie werden sie die Macht nutzen? Werden sie die Uhr irgendwann wieder zurückdrehen? Andererseits ist klar: Wirksamer Wandel ist nicht möglich, ohne sie mit im Boot zu haben.

So sehr wir Reformen gutheißen, die zu mehr Menschlichkeit, Freiheit, Demokratie und Wohlstand führen, so sehr sorgen wir uns jedoch auch. Denn ein Land wie Ihres, das sich jahrzehntelang isoliert hat und nun plötzlich öffnet, setzt sich Ge fahren aus: Westliche Konzerne und Staaten wittern neue Absatzmärkte, bald werden sie auch nach den Bodenschätzen gieren; schon strömen die Touristen, um ihnen bisher unzugängliche Sehenswürdigkeiten zu erleben. Achten Sie darauf, dass Ihre Landsleute diese Begegnungen und Erfahrungen auch verkraften können! Setzen Sie sich dafür ein, dass Ihr Land eigene kulturelle Werte und Errungenschaften bewahrt und nicht von der alles vereinheitlichenden globalen Konsumkultur überrollt wird! Tun Sie alles dafür, dass der Wandel ein Gewinn für das einfache Volk ist und nicht nur fremde Investoren und besagte Elite davon profitieren!

Dazu wünschen wir Ihnen Weisheit, Weitsicht, ein großes Herz und eine glückliche Hand!

Mit freundlichen Grüßen,
Clemens Behr
Redaktion Neue Stadt

Unser offener Brief wendet sich an Thein Sein (67), der seit März 2011 als Staatspräsident Myanmars sein jahrzehntelang abgeschottetes Land langsam der Demokratie und dem Weltmarkt öffnet.
Myanmar, ehemals Birma oder auch Burma, liegt zwischen Indien, China und Thailand. Mit 680.000 km2 ist es fast doppelt so groß wie Deutschland. Fast 90 Prozent der 54 Millionen Bewohner sind Buddhisten, 6 Prozent Christen.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2012)
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