23. September 2012

Das Stadtkloster Segen in Berlin will ein Ort der Stille und des Auftankens sein.

Von nst_xy

Don Camillo in Berlin

Wenn man die Schönhauser Allee in Richtung Alexanderplatz fährt, sieht man sie spätestens beim Überqueren der Kreuzung Eberswalder/Danziger Straße: die Segenskirche. Sie ist eingebaut in eine Häuserfront, wie auch andere Berliner Kirchen aus der Gründerzeit. Heute steht sie mitten im Prenzlauer Berg. Der Szenebezirk ist jung. Viele sind aktiv, kreativ und auf der Suche nach individuellen Lebensformen. Klösterliche Traditionen gehören nicht vorrangig dazu. Und mittendrin das „Stadtkloster Segen“. Träger ist eine evangelische Kommunität mit dem fröhlichen Namen Don Camillo. Sie ist aus der Schweiz nach Berlin gekommen.

Neben dem Altar der Segenskirche steht das Taizé-Kreuz. Auf der anderen Seite brennt die Osterkerze. Es ist so still, dass man gar nicht glaubt, an einer der Hauptverkehrsadern im Ostteil der Stadt zu sein. Punkt 12 Uhr läuten die Glocken. Ihr Klang wird bewusst wahrgenommen. Mit dem gesungenen „O Gott, komm mir zu Hilfe. Herr, eile, mir zu helfen“ beginnt das Mittagsgebet. Wie in vielen Ordenskonventen gibt auch im evangelischen Stadtkloster das Gebet den Rhythmus des Tages vor. In stets wiederkehrender Regelmäßigkeit treffen sich die Mitglieder der Gemeinschaft und Besucher, um Gott mit Gebeten, Psalmen und Hymnen zu loben.1) An einem Donnerstag im Mai sind knapp ein Dutzend Beter gekommen, mehrheitlich jüngere Leute, auffallend viele Männer. „Einige begrüßen sich mit Handschlag, andere schauen sich erstmal neugierig um. Manche suchen den Kontakt, andere ziehen es vor, anonym zu bleiben“, erzählt Georg Schubert, der Leiter der Don Camillo-Gemeinschaft.

Das Stadtkloster will ein Ort sein, an dem man sehen kann, wie Christen leben, arbeiten und beten. „Die Leute hier im Kiez wissen: Wir sind da, wir sind ansprechbar. Sie hören die Glocken und sehen: Die Kirche ist offen.“ Eine solche Entscheidung hat ihren Preis. „Wir haben immer mal Probleme mit Leuten, die Dinge mitnehmen“, so umschreibt Georg Schubert milde lächelnd materielle Verluste: Zwei Laptops wurden kürzlich aus dem Gemeindehaus gestohlen. Einmal waren die Kupferteile der Regenrinnen weg. Doch noch nie wurde das Gebet gestört, und darauf käme es ja schließlich an.

Sonntags um 21 Uhr wird „Abendbesinnung“ gehalten. Im Zentrum steht ein Bibeltext, der unter verschiedenen Aspekten betrachtet wird. „Wir fragen uns, wie wir dieses Wort heute lesen und wie wir es leben können.“ Dabei kommen nicht nur Theologen und geistliche „Profis“ zu Wort, sondern Geschäftsleute und Studierende, Handwerker und Kulturschaffende, eben Menschen aus dem Kiez. Der späte Beginn entspricht dem quirligen „Prenzlberg“, der nie zu schlafen scheint: Nach dem Abendgebet kann man sich in einem der bunten Straßencafés verabreden, die Spätvorstellung im Kino besuchen. Oder bei den Don Camillos einen Tee trinken.

Georg Schubert gehört zu den Gründern der Don Camillos: „Nach der Militärzeit, mit Anfang 20, habe ich mit zwei Freunden überlegt, wie wir leben wollen.“ Sie beschließen, in Gemeinschaft zu leben, mit Gütergemeinschaft und gemeinsamem Gebet. Ihre Freundinnen und späteren Ehefrauen ziehen mit. Der spirituelle Ansatz: In einer Gesellschaft, die sich immer individualistischer und unverbindlicher gibt, müssen Christen wieder Verbindlichkeit wagen. „Wir wollten etwas tun gegen den Trend zu fliehen, wenn etwas zu schwer oder zu langweilig wird“, argumentiert der 57-Jährige, „denn nur wer dran bleibt, wächst“.

Ein Name für die kleine Gruppe war schnell gefunden: Don Camillo, der schlitzohrige Priester aus den italienischen Filmen: „Uns gefielen sein Humor, seine unkomplizierte Beziehung zu Christus und die handfeste Liebe zu den Menschen.“ In der Schweiz gehören mittlerweile 25 Erwachsene zur Gemeinschaft. In Montmirail, am Fuß des Neuenburger Juras, haben sie ein ehemaliges Mädchenpensionat in ein Tagungs- und Begegnungszentrum umgewandelt. Jährlich übernachten dort rund 10 000 Gäste.

Schubert, von Beruf Bauleiter, hat die Gemeinschaft 25 Jahre lang geleitet. Danach wollte er jüngeren Familien Platz machen. Im Zuge des Leitungswechsels wäre auch ein Ortswechsel gut, dachte er, und daran, dass Kirche in Städten Schwierigkeiten habe, das Christentum „unter die Leute zu bringen“. Es müsse aber doch möglich sein, „auch in der Großstadt die Stille zu finden.“ Gleichzeitig suchte die Berliner evangelische Gemeinde Prenzlauer Berg Nord eine Gemeinschaft, die der sanierungsbedürftigen Segenskirche und dem Gemeindehaus Leben einhauchen könnte. Die Großgemeinde war mit den Dimensionen, die sie durch die Fusionen angenommen hatte, sowohl personell als auch finanziell überfordert. Das öffnete den Blick für neue, ungewöhnliche Kooperationen wie mit der Kommunität Don Camillo. Damit konnte man auf Menschen zugehen, die Spiritualität in einer Form suchen, wie sie die Ortsgemeinde bisher nicht angeboten hatte.

Und so begann im August 2007 für die eher bodenständigen und beschaulich veranlagten Eidgenossen das Abenteuer „Don Camillo im Prenzlauer Berg“. Für einen Euro kauften sie der Landeskirche das Backsteingebäude mit dem von weitem sichtbaren Turm ab. Derzeit wohnen zwei Familien und zwei Alleinstehende im Gemeindehaus. Georg und Barbara Schubert haben vier Kinder. Drei sind in der Schweiz geblieben, der jüngste Sohn ist mit nach Berlin gekommen; er studiert hier. Georg Schubert ist Projektleiter und verantwortlich für die gottesdienstlichen Inhalte. Seine Frau leitet Exerzitien und begleitet Menschen in Glaubens- und Lebensfragen. Anfangs seien die Prenzlberger mit sozialen Ängsten zu ihnen gekommen, die eine Suppenküche oder Kleiderkammer suchten. Inzwischen betreffen die Anfragen mehr Entscheidungsnöte und Beziehungsprobleme: „Wie haben Sie es bloß geschafft, über 30 Jahre lang verheiratet zu bleiben, wird meine Frau da gefragt.“

Familie Dürr hat sich mit ihren drei Kindern, das jüngste ist elf, auf den Weg nach Preußen gemacht. Corinne Dürr bietet Konfirmandenkurse an, zeigt Kindern die Kirche, kocht und kümmert sich um die offene Kirche. Ihr Mann Felix leitet den Umbau von Kirche und Gemeindehaus und verantwortet die musikalische Gestaltung der Veranstaltungen. Die Kinder gehören nicht automatisch zur Klostergemeinschaft. Sie sollen ihren eigenen Weg finden und auch gehen.

Ulrike Fey von den Don Camillos bringt die acht Gästezimmer zum Funkeln, kennt sich in schönen Texten aus und sorgt für einen guten Empfang im Haus. Und Urs Trösch ist für die Administration zuständig, arbeitet auf dem Bau mit und repariert alles, was in Kirche, Gästezimmern, Seminarräumen oder der kleinen Kapelle unterm Dach defekt ist.

Neben Gebetszeiten, Exerzitien, Seminaren und individueller Beratung bietet das Segenskloster auch Glaubenskurse an. „Unsere katholischen Nachbarn, die Gemeinschaft Chemin Neuf in der Pfarrei Herz Jesu, haben uns da geholfen“, erzählt Georg Schubert dankbar. Beide Kommunitäten, die in so unmittelbarer Nähe wirken, sehen sich nicht als Konkurrenten, sondern als geschwisterliche Gemeinschaften.

Die offiziellen Kontakte zur katholischen Kirche sind eher gering, aber das läge auch an ihnen, weil sie zunächst sehr mit Ankommen, Bauen und dem Verstehen der „Berliner Schnauze“ beschäftigt waren, erklärt Schubert. Bei den persönlichen Kontakten sehe das aber anders aus. Und von Anfang an lag den Don Camillos daran, Nachbargemeinden in die Gestaltung der Liturgien einzubinden.

Wohltuend empfinden viele, dass sich die Mitglieder der Kommunität nicht wie „Profis für Spiritualität“ gebärden, die wissen, wie Leben aus dem Glauben geht. Psychotherapeutin Katharina Jany erlebt im Stadtkloster „große innere Freiheit und zugleich geistliche Tiefe“.

Deshalb denkt sie, dass künftig noch mehr Menschen das Stadtkloster für sich entdecken, „besonders Menschen, die auf der Suche sind, sich aber vor Vereinnahmung fürchten“ und daher nur schwer die Schwelle eines Pfarrhauses überschreiten.

Neben dem Stadtkloster, im türkischen Imbiss, sitzt ein Mittfünfziger bei einem Espresso. Er war beim Mittagsgebet. An Gott glaubt er nicht, eher an die Don Camillos: „Die sind zwar aus dem Westen, aber irgendwie anders. Die nehmen einen ernst, hören sich mein Gelaber an von wegen arbeitslos und Ehe futsch, und wollen dafür nicht mal Geld. Wo gibt’s denn so was heute noch?“, sagt er. „Die passen zu uns hier. Da kannste nich meckern.“ Letzteres gilt als das höchste Lob, zu dem ein Berliner sich aufraffen kann.

Juliane Bittner

1) Liturgische Gebetszeiten: montags bis freitags 8 und 12 Uhr sowie dienstags und donnerstags um 21 Uhr. Jeden Freitag um 19.30 Uhr ein Gebet mit Gesängen aus Taizé

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2012)
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