26. September 2012

Die ersten Lebensjahre: Wie Kinder sprechen lernen

Von nst_xy

“Mama, hab ausgetrinkt!“

Lernen Kinder noch ausreichend sprechen? Reden die Eltern zu wenig mit ihnen?
Jooß-Weinbach: Spracherwerb passiert auf vielen Ebenen. Erstmal muss sich das Baby in die Sprache einhören. Dazu sind die Menschen das wichtigste Medium, aber auch Fernsehen, Radio oder Medien im weiteren Sinn spielen eine Rolle.

Ich bin vorsichtig zu sagen, früher hat man mit Kindern viel mehr gesprochen. Denn die Eltern hatten auch damals schon viel zu tun, und teils galten ja auch Regeln wie die, dass man bei Tisch nicht spricht. Wichtig ist, dass Kinder sichere Beziehungen und Bindungen zur Verfügung haben, auf deren Fundament sich die Sprachentwicklung vollzieht.

Was bringt es, mit einem Baby zu sprechen, das noch gar nichts versteht?
Jooß-Weinbach: In dem Alter geht es nicht ums Wortverstehen. Aber die Prosodie, das Betonungsmuster und das Heraushören von Wortgrenzen sind erste Elemente, um in die Sprache hineinzufinden. Das hören Babys schon im Mutterleib. Es ist also sinnvoll, mit dem Baby zu sprechen, auch wenn es die Bedeutung noch nicht entschlüsseln kann.

Mancher wendet sich dem Baby zu, indem er selbst in eine Babysprache verfällt…
Jooß-Weinbach: Viele Erwachsene verändern automatisch die Stimmlage, wenn sie mit Babys kommunizieren, oder ahmen Laute nach wie „da da da“. Kleine Kinder nehmen höhere Stimmlagen besser wahr. Bei dieser Form der Ammensprache geht es für Kinder vor allem darum, im Dialog mit jemandem zu sein. Der Erwachsene greift auf, was das Kind ihm an Lauten entgegenbringt. So erlebt es, wie Sprechen funktioniert: Ich werde ernst genommen und vielleicht imitiert – und imitiere selbst wieder. Kleine „Lautdialoge“ helfen, in die Wechselseitigkeit hineinzufinden und sind zentral, um Beziehungen aufzubauen und zu beleben.

Welche Phasen durchlaufen Kinder beim Sprechenlernen?
Jooß-Weinbach: Anfangs hören sie sich in den Lautstrom ein, beginnen, erste Lautäußerungen zu produzieren und später von anderen nachzuahmen. Dann erkennen sie, dass sich die Laute auf ein Objekt beziehen. So merken sie: Ich kann mich mit jemandem über etwas austauschen.

Die ersten Wörter eines Kindes betreffen Menschen oder Dinge, die für sie bedeutsam sind: Mama, Papa, Auto. Mithilfe der Intonation können sie mit nur einem Wort bereits sehr gut ausdrücken, worum es ihnen geht, Beispiel: Mama? Mama!!! Schließlich werden im Telegrammstil zwei Wörter aneinandergereiht und sie haben immer mehr das Bedürfnis, ihre Umwelt sprachlich genauer zu beschreiben und sich einzubringen. Dann  erst kommt die komplexe Grammatik ins Spiel. Das ist jetzt sehr stark verkürzt.

Beim Deutschen Jugendinstitut haben wir einen sogenannten „weiten Blick“ auf Sprache entwickelt. Es geht nicht nur darum, Wörter zu zählen, sondern die Kinder auf ihrem Weg in die Sprache zu begleiten und ihre Strategien dabei zu verstehen. Und wir nehmen dafür die sozial-kommunikative und die sprachlich-geistige Entwicklung des Kindes als Ausgangspunkt. Es muss erst eine Menge Erfahrungen und Wahrnehmungen gemacht haben, damit diese später von der Verbalsprache ummantelt werden können.

Eltern vergleichen die Fähigkeiten ihrer Kinder mit denen der Altersgenossen. Müssen sie sich Sorgen machen, wenn ihr Kind noch nicht so weit ist?
Jooß-Weinbach: Nicht unbedingt. Im Alter von null bis drei sind in der Sprachentwicklung Unterschiede von bis zu einem Jahr durchaus normal. Das ist eine große Altersspanne! In dieser Zeit ist der Spracherwerb ein beiläufiger Lernprozess. Kinder nehmen Sprache bei den alltäglichen Erlebnissen und Abläufen auf. Aber sie können Sprache und Spracherwerb noch nicht zum Thema machen. Das kommt erst später, wenn sie gezielt fragen: Wie heißt das? Warum sagst du das? Da ihnen Sprache vorher noch nicht bewusst ist, bringt es in dem frühen Alter noch nichts, ihnen losgelöst Worte vorzusagen und Sprechen zu trainieren.

Kann ein Kind dann sprechen, erzählt es oft immer wieder das Gleiche, was den Erwachsenen nerven kann. Was kann er tun?
Jooß-Weinbach: Es gehört dazu, dass die Kinder lernen, in welchen Situationen Sprache wie eingesetzt wird. Dass es Momente gibt, in denen die Eltern keine Zeit haben oder sich auf etwas anderes konzentrieren müssen; dass es Missverständnisse geben kann. Eltern sollten sich nicht unter Druck setzen, ständig verfügbar zu sein und den sowieso unmöglichen perfekten Dialog parat zu haben. Trotzdem helfen sprachliche Brücken, dem Kind zu zeigen, dass man sein Anliegen zumindest wahrgenommen hat, aber nicht darauf eingehen kann, beispielsweise: Jetzt habe ich keine Zeit, aber nachher kannst du mir alles erzählen.

Früher haben Erwachsene Kinderlieder gesungen, wenn sie sich mit kleinen Kindern beschäftigt haben. Hat das eine Funktion?
Jooß-Weinbach: Kinder hören Sprache in verschiedenen Formen. Reime, wiederkehrende Phrasen und Melodien sind da ein Angebot, das sie gern annehmen und in das sie schnell hineinfinden. Singen geht oft mit emotionaler Zuwendung oder dem Gefühl von Zugehörigkeit einher: Das Kind sitzt auf dem Schoß oder wird auf dem Arm gehalten oder sitzt vielleicht in einem Morgenkreis mit anderen Kindern. Es kann sich dabei mit Bewegungen oder Worten einbringen und erfährt sich als kompetent und zugehörig.

Und das Vorlesen?
Jooß-Weinbach: In der gesprochenen Sprache verwenden wir oft eine verkürzte Satzstruktur: Da ist es völlig normal, Verben wegzulassen, sonst würde eine Unterhaltung nicht mehr flüssig sein. Ganz anders ist die Schriftsprache, die meist vollständige Sätze und einen ausgefalleneren Wortschatz benutzt. Das Vorlesen ist eine schöne Möglichkeit für Kinder wie Erwachsene, Facetten der Sprache zu hören, die wir im Alltag weniger verwenden.

Wie kann der Erwachsene reagieren, wenn er das Kind nicht versteht?
Jooß-Weinbach: Erstmal sollte er nicht nur auf die verbale Sprache achten, sondern auch auf nonverbale Ausdrucksformen: Worauf richtet das Kind den Blick, zeigt es einen Gegenstand? Eltern oder Erzieherinnen verstehen das Kind oft intuitiv. Sie können das Schreien ihres Babys deuten: Hunger hört sich anders an, als wenn ihm etwas wehtut. Kinder wie Erwachsene lernen miteinander, wie der andere agiert und reagiert, und stellen sich so aufeinander ein.

Wir reduzieren das Lernen von Sprache zu leicht auf das Lernen von Wörtern. Das Gegenüber teilt sich aber auch mit, ohne Wörter zu benutzen. Ich erinnere eine Situation in der Kita, da läuft ein kleines Kind eine ganze Zeit der Erzieherin hinterher. Irgendwann zieht das Kind sie am Ärmel. Die Erzieherin sagt: „Was willst du denn?“ In dem Moment öffnet das Kind seine Hand, in der eine kleine Muschel liegt und schaut sie erwartungsvoll an. Es sagt natürlich nicht: „Ich will dir eine Muschel zeigen.“ Aber es hat die ganze Zeit einen Plan verfolgt und dann seine verfügbaren Ausdrucksmöglichkeiten eingesetzt, um der Erzieherin etwas mitzuteilen. Und die versteht das auch und sagt: „Oh, so eine tolle Muschel hast du! Schön, dass du mir sie zeigst!“ Und das Kind strahlt.

Soll man das Kind korrigieren, wenn es Fehler macht?
Jooß-Weinbach: Grundsätzlich gilt: Inhalt vor Form. Erstmal sollte es uns um die authentische Verständigung gehen! Dann können wir schauen, um was für eine Art „Fehler“ es sich handelt.

Vieles, was falsch erscheint, ist eine wichtige Strategie im Spracherwerb der Kinder. Etwa ab dem dritten Lebensjahr beugen die Kinder Verben, sagen so etwas wie „getrinkt“ oder „geesst“. Das zeigt erstmal einen Fortschritt: Sie haben jetzt erkannt, wie das Partizip Perfekt gebildet wird, und wenden diese Regel konsequent an. Der nächste Schritt wäre dann, die Ausnahmen zu erkennen.

„Das war jetzt aber falsch“ – „Das heißt: gegessen!“ Direktes Ansprechen oder Korrigieren ist keine gute Strategie, um Kindern die Freude am Spracherwerb zu erhalten. Wenn man unbedingt verbessern will, dann eher, indem man das Gesagte aufgreift – „Was, du hast den Saft schon ausgetrunken!?“ – und auf diese Weise die richtige Form einbringt. Trotzdem muss der Einsatz maßvoll sein, sonst verliert das Gespräch an Authentizität und vor lauter Wiederholen geht der Dialog kaputt.

Wo fangen Sprachstörungen an? Wann sollten sich Eltern Hilfe holen?
Jooß-Weinbach: Natürlich gibt es auch Verläufe, die nicht im Bereich des Normalen liegen. Wenn Eltern unsicher sind, würde ich raten: Besucht das Kind eine Krippe, sollten sie mit den Erzieherinnen sprechen und sich darüber austauschen, welches Sprachverhalten das Kind in der Kita zeigt und welches zu Hause. In bestimmten Situationen sprechen Kinder überraschend doch und zeigen einen Wortschatz, den sie vorher nicht aktiv genutzt haben. Bleiben Sorgen bestehen, kann man natürlich einen Kinderarzt oder einen Logopäden aufsuchen, der die Problematik dann genauer in den Blick nimmt.

Besten Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Margarete Jooß-Weinbach, 1981 in Esslingen geboren, hat in Göttingen und Berlin Erziehungs- und Medienwissenschaft studiert und über professionelles Handeln von Erzieherinnen promoviert. Sie ist wissenschaftliche Referentin am Deutschen Jugendinstitut in München und arbeitet an einem Projekt zur Qualifizierung von Erziehenden nach dem DJI-Konzept „Sprachliche Bildung und Förderung von Kindern unter Drei“ mit.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, September 2012)
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