Zwischen Moosstreifen, Verkehrsinseln und Weinreben
Ihre Mitarbeiter in der Garten- und Landschaftspflege sind Menschen mit einer geistigen Behinderung: Herbert Krause und seine Kollegen begegnen ihnen auf Augenhöhe.
Ihr erster Einsatzort an diesem Tag ist das Parkhaus der Experimenta in Heilbronn. Dort pflegen sie einen fast vierhundert Quadratmeter großen Moosgarten, dessen Gestaltung sich an der japanischen Gartenkunst orientiert. Keine leichte Aufgabe für die Garten- und Landschaftspfleger der Beschützenden Werkstätte Heilbronn; sie fördert aber ihre Feinmotorik und Sorgfalt. Ein Mitarbeiter schafft in der Stunde einen Quadratmeter, erklärt Herbert Krause, der die Gruppe begleitet: „Es ist, als ob man aus einem Teppich Haare herausziehen müsste.“ Geduldig und konzentriert entfernen sie das Unkraut aus den Moos- und Farnstreifen und reinigen die Muschelkalk- und Splitt-Bänder dazwischen.
Die Beschützende Werkstätte Heilbronn gibt über tausend Menschen mit geistiger Behinderung Arbeit: Zum Beispiel in den Bereichen Holz-, Kunststoff- oder Metallverarbeitung, Textil, Verpackung, Industrie- und Elektromontage und Hauswirtschaft. „Wir haben in Heilbronn vier Gartenbaugruppen mit maximal 24 Plätzen“, ergänzt Herbert Krause, der seit 1990 hier arbeitet. Er ist Gartenbautechniker und hat später eine Zusatzqualifikation in Heilpädagogik erworben. „Seitdem verstehe ich geistige Behinderung nicht mehr als Krankheit. Aber sie als völlig normal zu sehen, ist auch heute noch jeden Tag eine Herausforderung für mich.“
Die Mitarbeiter in seinem heutigen Arbeitsteam sind unterschiedlicher Herkunft und haben ganz verschiedene Charaktere: René ist Deutscher, in Stephans Adern fließt spanisches Blut, Michael kommt aus einer italienischen Familie und Halil stammt aus der Türkei. „Einer ist verschlossen und macht vieles mit sich selbst aus“, meint Herbert Krause. „Wenn er doch einmal zu mir kommt und sagt ‚ich hab ein Problem’, hab ich das meist schon vorher an seinem Verhalten ablesen können. Ein anderer ist überschwänglich, erzählt gleich alles, was er hat und kann, und überschätzt sich leicht selbst.“ Manchmal sticheln sie sich gegenseitig. Wenn es in ernsten Streit zu kippen droht, bietet Herbert Krause einen Perspektivwechsel an: „Überlegt doch mal, wie das beim anderen ankommt! Möchtest du selbst so behandelt werden?“ Nicht von ungefähr arbeiten Starke und Schwache zusammen: Damit sie sich von anderen Fähigkeiten abgucken können und lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen.
Die Betreuer im Gartenbaubereich sind zu viert. Ihnen ist die Abstimmung untereinander wichtig: Damit sie an einem Strang ziehen. Klappt es einmal zwischen zwei Mitarbeitern gar nicht, helfen sich die Betreuer untereinander: „Ich kann den Streithansel heute in meine Gruppe nehmen und ihm eine Aufgabe geben, bei der er seine Aggressionen ausleben kann.“
Auch Fehler dürfen gemacht werden. Ein Mitarbeiter ertrug es anfangs nicht, wenn jemand etwas falsch machte. „Dieser Mitarbeiter ist der totale Gerechtigkeitsmensch, aber anderen gegenüber unbarmherzig, und eigenes Versagen wird zugedeckt und geleugnet. Es gab Momente, da wollte niemand mit ihm arbeiten.“ Krause gibt seinen Mitarbeitern mit, dass sie keine Perfektionisten sein sollen, sondern sich gegenseitig ergänzen können:
Keiner kann alles. Im Miteinander lassen sich die Fähigkeiten des Einzelnen entdecken und die Fertigkeiten entwickeln. Inzwischen ist jener Mitarbeiter akzeptiert, weil er sich verändert hat: Heute gibt er Schwächeren sein Können weiter und zeigt ihnen, wie sie eine Arbeit am besten angehen.
Weniger sicher für die Garten- und Landschaftspfleger als der ruhig gelegene Moosgarten sind Verkehrsinseln. Die halten sie im Auftrag der Stadt in Ordnung: Reinigen und Rasen mähen. Diese Arbeiten bei fließendem Verkehr werden immer abgesichert. Doch bleibt die Gefahr, dass Mitarbeiter auch mal auf die Fahrbahn treten.
Die Betreuer fördern die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmtheit in Schulungen und Unterweisungen. Für den Umgang mit Maschinen hat die Werkstätte daher einen Betriebsführerschein eingeführt, der einem Ampelsystem folgt. Die Mitarbeiter wissen: Grün heißt, ich darf die Maschine selbständig bedienen; gelb bedeutet, es muss ein Betreuer dabei sein; rot, ich darf sie nicht benutzen. „Wer viele Befähigungen hat, bekommt einen höheren Lohn, trägt allerdings auch mehr Verantwortung“, erklärt Herbert Krause. „Aber letztlich stehen wir Betreuer für unsere Mitarbeiter und ihre Unversehrtheit ein.“
Die Beschützende Werkstätte ist ein eingetragener Verein und Mitglied im Diakonischen Werk Württemberg. Früh beginnt die Arbeit mit einer Morgenandacht. Herbert Krause gehört zu einem Team, das die Tagesimpulse vorbereitet. Dabei greift er schon mal auf das Wort des Lebens und die Spiritualität derFokolar-Bewegung zurück, die er als seine geistliche Grundlage sieht. „Mir geht es darum, die Gedanken so herunterzubrechen, dass jeder Mitarbeiter sie verstehen kann. Dadurch kann Vertrauen wachsen.“
Immer wieder wenden sich Mitarbeiter mit Problemen oder elementaren Lebensfragen an Herrn Krause: zum Glauben, zum Kranksein oder Sterben. „Letzte Woche kam ein Mitarbeiter und sagte: ‚Ich werde operiert. Meine Mutter will, dass ich mich sterilisieren lasse.’“ Krause spürte die Angst des jungen Mannes: vor der Narkose, vor der Operation, vor den unbekannten Folgen des Eingriffs für seinen Körper. „Vor einiger Zeit hatte ich mir ein Bein gebrochen“, sagt Krause. „Also hab ich von meiner Narkose, meiner OP erzählt und konnte ihm damit einen Teil der Angst nehmen. Die Entscheidung selbst konnte ich ihm jedoch nicht abnehmen. Der Mitarbeiter hat seit einiger Zeit einen Neffen. Daher habe ich gesagt, dass ich selbst keine Kinder habe, aber meiner Schwester Arbeit abnehme, die einen Sohn hat. Und dass das vielleicht auch eine Aufgabe für ihn sein könnte: Für seine Verwandten da zu sein.“
Einmal im Monat geht Herbert Krause zu einer „Glaube und Licht“-Gemeinschaft in Ellwangen: Sie gehört zu einer 1970 von Jean Vanier in Frankreich gegründeten christlichen Laienbewegung, bei der Menschen mit geistiger Behinderung im Mittelpunkt stehen, weil sie einen eigenen, unmittelbaren Zugang zum Spirituellen haben. Wenn er den Mitarbeitern im Beruf auch auf Augenhöhe begegnen will, bleibt doch immer die Position der Verantwortung. „Bei den Begegnungen in der Gemeinschaft bin ich dagegen frei davon.“
Nach der Mittagspause geht es zu einem Weinberg nach Talheim zum Rebschnitt. Es ist kalt und windig. René erklärt bereitwillig, welche Reben abgeschnitten werden und wie viele Knospen stehen bleiben sollen. Jetzt sind die Reben noch in der Höhe einzukürzen. Zurück im Pritschenwagen sind die Mitarbeiter besonders gut drauf und stimmen Lieder an. Es gibt Kaffee aus der Thermoskanne und Gebäck.
„Von den Mitarbeitern lerne ich, dass ich vieles zu ernst nehme“, erzählt Herbert Krause. „Sie haben nicht diesen Filter im Kopf: Wie komme ich wohl bei den anderen an?“ Ihre Heiterkeit und Unbekümmertheit faszinieren ihn. „Eine Mitarbeiterin in einem anderen Bereich hat einen Gehirntumor, sitzt im Rollstuhl, die Mobilität wird von Monat zu Monat geringer. Sie hat eine Freundlichkeit, die ich nicht erklären kann: Eine Freude, die von innen kommt und nicht auf Äußerlichkeiten schaut.“
Clemens Behr
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2013)
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