12. Juni 2013

Atlas der Geschwisterlichkeit

Von nst1

Die Jugendlichen der Fokolar-Bewegung haben sich ein ambioniertes Ziel gesetzt: Mit dem „United World Project“ 1) wollen sie Initiativen der Geschwisterlichkeit weltweit sichtbar machen und offiziell anerkennen lassen.

Indonesien. Bantul. Eine ländliche Region südlich der Stadt Yogyakarta: 2006 lag hier das Epizentrum eines Erdbebens, bei dem über 5700 Menschen starben und Häuser und Hütten gleichsam weggefegt wurden. Eine Gruppe Jugendlicher aus der Stadt eroberte sich das Vertrauen der Bevölkerung, weil sie kamen, zuhörten, sich die Ärmel hochkrempelten und in 22 Dörfern gemeinsam mit den Bewohnern jene überdachten Plätze wieder aufbauten, die als Versammlungsort, Schul- und Kulturzentrum dienen. Nach kurzer Zeit nahm kaum einer in dem mehrheitlich muslimischen Umfeld noch wahr, dass sie Christen waren. Danach wünschten sich die Dorfbewohner, dass ihre Kinder besser Englisch lernen, und so sind die Jugendlichen nun als Lehrer im Einsatz.

Italien, Pomigliano d’Arco, Provinz Neapel. Ilaria und Salvatore setzen sich über Monate zusammen mit anderen aus ihrer Pfarrei dafür ein, dass 50 junge Flüchtlinge aus afrikanischen Kriegsgebieten in Italien bleiben können.

Brasilien,  Recife. Eine Jugendliche hilft auf der Straße einem Epileptiker, der ausgestoßen von seiner Familie und seinem Umfeld auf der Straße lebt, als dieser einen Anfall hat. Aus der spontanen Hilfsgeste wächst eine Freundschaft, die beide bereichert und auch andere einbezieht.

Syrien und Naher Osten. Unzählige Versöhnungsgesten schaffen immer wieder Räume des Vertrauens und des Miteinanders in den gesellschaftlichen Umbrüchen, die in vielen Ländern Unsicherheit, Hass und Gewalt mit sich bringen.

Afrika. Jugendliche aus verschiedenen Ländern entwickeln das Projekt „Sharing with Africa“, das sie ihren Altersgenossen in aller Welt vorschlagen: Es soll zeigen, was dieser Kontinent mit seinen Traditionen und Besonderheiten zu geben hat. Das Projekt sieht neben der Teilnahme an einer Schule der Inkulturation auch die Mitarbeit an konkreten Projekten kenianischer Jugendlicher vor.

Indien. Bangalore. Zehn Jugendliche haben symbolisch 34 Dörfer im Umkreis ihrer Großstadt „adoptiert“. Alle drei Monate organisieren sie Theater- und Musik-Workshops mit den Jugendlichen dieser Dörfer, die normalerweise von der Stadtbevölkerung gemieden werden.

Deutschland. Augsburg. Monatlich verbringen Jugendliche einen Sonntagnachmittag in einem Asylbewerberheim. Mit Spielen, Basteln und Singen wollen sie den Kindern der Asylbewerberfamilien, die dort auf sehr engem Raum zusammenleben, ein wenig Freude bringen. Nach und nach entstehen auch Kontakte zu den Eltern.

Was diese so unterschiedlichen Initiativen verbindet? Dass durch sie Brücken gebaut werden und mehr Miteinander entsteht. Dass es davon unzählige mehr gibt, davon sind auch die Jugendlichen der Fokolar-Bewegung überzeugt. „Es gibt ein großes, weitgehend unsichtbares Netzwerk von Jugendlichen und Erwachsenen, die täglich andere annehmen, verzeihen, sich an die Seite ihrer Mitmenschen stellen, sie als Brüder und Schwestern betrachten statt als Feinde“, so Francesco. Der italienische Jurastudent gehört zu einer Gruppe Jugendlicher, die das Genfest 2012 vorbereitet hatte. „Let’s bridge“, war das Motto der internationalen Begegnung, zu der 12 000 junge Menschen Anfang September nach Budapest gekommen waren.

Sie wollen Brücken bauen und das nicht nur bei großen Events, sondern auch im Alltag, jeder an dem Platz, wo er steht; Brücken zwischen Generationen, Gruppen, Völkern; Brücken zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten, Religionen und Weltanschauungen; Brücken im Großen wie im Kleinen. Das Genfest sollte das sichtbar machen, aber auch neue Impulse setzen.
„Und wir träumen davon“, so Francesco, „dass dieses Netzwerk immer deutlicher sichtbar und öffentlich anerkannt wird, weil es das Gesicht unser Welt ganz entscheidend prägt und verändert.“

So entstand im Juni 2011 bei einem Vorbereitungswochenende die Idee zu einem Projekt, das all diese Initiativen und den Einsatz in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bündelt: das „United World Project“, eine weltweite Baustelle in mehreren Etappen.
Die erste wird direkt in Budapest eingeläutet: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.” Wer sich auf der Grundlage der Goldenen Regel engagieren will, kann das sofort im Internet mit seiner Unterschrift besiegeln. Innerhalb weniger Tage finden sich dort die Namen von Menschen aus allen Teilen der Welt: von China bis Algerien, vom Irak bis in die USA, von Honduras, Moldawien bis in den Kongo. Jugendliche aus Brasilien stoßen dann im Internet zufällig auf das Projekt und schließen sich an. Bis Mai 2013 kommen so online 24 742 Unterschriften zusammen. Die zugehörige Petition (Kasten) wird dann aber auch bei Aktionen und Begegnungen bekannt gemacht und weitere 26 867 Menschen unterzeichnen sie auf ausliegenden Listen. So haben die Jugendlichen ihr erstes Etappenziel erreicht: Am 1. Mai konnten sie nach nur acht Monaten bei einer Konferenzschaltung aus Jerusalem im Rahmen der weltweiten „Woche für eine geeinte Welt“ über 50 000 Unterschriften vermelden.

Aber damit nicht genug: „Wir wollen aufzeigen, was das Leben nach dem Prinzip der Geschwisterlichkeit in der Welt bewirkt, inwieweit es die Entscheidungen und Handlungen Einzelner und ganzer Gruppen beeinflussen kann,“ erklären in Jerusalem Francesco und Mariagrazia, die das Projekt koordinieren. Sie greifen dabei einen Gedanken von Chiara Lubich auf: Die Fokolar-Gründerin sah die Geschichte der Menschheit als „einen langsamen, aber unaufhaltsamen Weg hin zur universalen Geschwisterlichkeit“ und ermutigte die Jugendlichen schon vor Jahren, die Welt davon zu überzeugen, dass sie zur Einheit berufen ist, indem sie positive Ansätze ins Licht rücken.
So wollten es Mariagrazia, Francesco und all die anderen nun auch nicht bei ihrer Unterschrift und dem persönlichen Einsatz belassen und haben angefangen, die Initiativen zu sammeln. Dabei richten sie ihren Blick auch auf jene, die gemäß dem Prinzip des „good practice“ („bewährte Beispiele“) auch von anderen im Sinne der Geschwisterlichkeit durchgeführt werden. Das alles wollen sie in eine Datenbank einpflegen und in Bezug auf das Prinzip der Geschwisterlichkeit „klassifizieren“, nach Dauer, Zahl der einbezogenen Personen, den erzielten Ergebnissen und den Lebenszeugnissen.

Die Frage drängt sich unweigerlich auf: Wie soll man „Geschwisterlichkeit“ messen und bewerten? Dass das eine Herausforderung ist, ist auch den Jugendlichen klar.
Aber sie wollen sich nicht abschrecken lassen und haben Politiker und Wissenschaftler, Experten in internationalen Beziehungen und Juristen um Hilfe gebeten bei der Klassifizierung der aus den Ländern vorgeschlagenen Initiativen: Bisher sind das schon über 700.

Mit den Unterschriften und den Initiativen der Geschwisterlichkeit wollen die Jugendlichen nun in der nächsten Etappe bei den nationalen UNESCO-Kommissionen 2) in dreißig Ländern vorstellig werden und dann alles in Paris der Präsidentin der Generalkonferenz der UNESCO, Katalin Bogyay, präsentieren. Sie hat die jungen Leute vor Kurzem schon einmal empfangen und sich über das Projekt informiert. Außerdem haben die Jugendlichen in der Elfenbeinküste, Ungarn und Uruguay Kontakt zu nationalen Kulturkommissionen, in Brasilien zu Vertretern des Senats. Erste Kontakte bestehen auch zur Europäischen Kommission und zum Staatssekretär für Kultur in Portugal. Überall wollen die jungen Leute darauf hinwirken, dass eine internationale „Monitoring-Stelle für Geschwisterlichkeit“ geschaffen wird. Außerdem wollen sie den Vereinten Nationen vorschlagen, die „Woche für eine geeinte Welt“, die sie in vielen Ländern seit 1996 durchführen, als internationale Einrichtung anzuerkennen.
Als eine interkontinentale Baustelle hat einmal jemand das „United World Project“ bezeichnet. Wenn man bedenkt, wie viele Überraschungen auf Baustellen auftauchen, wundert es kaum, dass auch auf dieser so manches noch in Entwicklung ist und an neue Gegebenheiten angepasst werden muss. So ist in neun Monaten seit dem Start einiges klarer geworden, anderes liegt bisher nur als Bauplan vor. Das Ziel aber scheinen die Bauleute fest im Blick zu haben: die geeinte Welt und die universale Geschwisterlichkeit, zu der sie mit ihrem ganz konkreten Einsatz beitragen wollen.
Gabi Ballweg

Petition zum „United World Project“
Mit meiner Unterschrift …
– verpflichte ich mich, wo auch immer und wem gegenüber auch immer gemäß der Goldenen Regel zu leben. Meine Worte und meine Handlungen sollen ein Beitrag dazu sein, diese Welt zum Guten hin zu verändern;
– erkläre ich mich bereit, mich für den Aufbau eines internationalen Büros einzusetzen, dessen Aufgabe es ist, Aktivitäten, Initiativen und Erfahrungen von Einzelnen, Gruppen oder Institutionen zum Thema Geschwisterlichkeit zu beobachten, zu sammeln und weltweit bekannt zu machen, entsprechende Forschungen und Studien zu unterstützen und Aktionen zu fördern, die das Bewusstsein für die universale Geschwisterlichkeit schärfen;
– fordere ich die Vereinten Nationen auf, die „Woche für eine geeinte Welt“ als internationale Aktivität anzuerkennen, sodass sich auch Staaten nachhaltig daran beteiligen können.

Zum Unterschreiben:
www.unitedworldproject.org

1) dt. „Projekt für eine geeinte Welt“
2) Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2013)
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