Das lange Warten
Patrick Wetzel (57) könnte gut eine neue Leber gebrauchen. Nach etwa anderthalb Jahren kam endlich die ersehnte Nachricht: „Wir haben ein Spenderorgan für Sie!“ Aber dann traten Komplikationen auf.
Patrick Wetzel war im niederländischen Leiden gelistet. Dort sitzt die Vermittlungsstelle für Organspenden in den Beneluxländern, Deutschland, Österreich, Slowenien und Kroatien. Bei ihr sind rund 16 000 Patienten registriert, die auf ein Spenderorgan warten. Im Durchschnitt werden pro Jahr 7000 Organe vermittelt. Jeder Patient wird nach bestimmten Kriterien in eine Rangfolge eingefügt. Patrick Wetzel hatte ein Leberkarzinom. Der Krebs war inoperabel. Es blieb nur die Möglichkeit einer Organtransplantation. Der Familienvater aus der Nähe von Kaiserslautern wusste, dass es anderthalb Jahre dauern konnte, bis eine passende Leber verfügbar ist. Das war Ende 2010. Ein Rennen gegen die Zeit begann. Damit sich der Tumor nicht ausbreitet, musste sich Patrick Wetzel alle sechs bis acht Wochen einer Chemotherapie unterziehen.
„Spenderausweis ja oder nein? Bis dahin hatte ich mich immer vor dieser Frage gedrückt“, erinnert er sich. „Und jetzt stand ich plötzlich auf der anderen Seite und dachte: Menschenskinder, du warst nicht bereit, anderen deine Organe zuzugestehen, und jetzt bist du selbst darauf angewiesen und hoffst, dass jemand einspringt, damit du weiterleben kannst!“
An eine geregelte Arbeit war nicht mehr zu denken. Patrick Wetzel hatte in einer Schule für Menschen mit geistiger Behinderung gearbeitet. Aber die Chemotherapie nagte an den Kräften: Mal fühlte er sich stark, dann wieder schwach. Aber der Schulleiter musste planen können. Außerdem schwächte die Chemo das Immunsystem: Die Gefahr stieg, dass er sich ansteckte.
Sorgen machten sich breit, Fragen tauchten auf: Wie würde sein Körper das fremde Organ annehmen? Er hörte von Fällen, bei denen es wunderbar lief, die Leute konnten das Krankenhaus nach einigen Wochen wieder verlassen; und von anderen, die nach der OP schlecht dran waren und sehr zu kämpfen hatten. Was würde noch alles auf ihn zukommen? „Es war ein unangenehmes Gefühl“, erzählt Patrick Wetzel, „diese Unsicherheit, eine gehörige Portion Respekt und auch Angst. Wie sich auf so einen Weg vorbereiten?“
Seine Freunde, seine Frau und die beiden Kinder haben rege an seiner Situation Anteil genommen. Andererseits wollte er nicht ständig darüber reden müssen. Das Familienleben sollte möglichst normal weitergehen, die Krankheit nicht ständig im Mittelpunkt stehen. „Unser Sohn ist zwölf, unsere Tochter sieben“, erzählt Patrick Wetzel. „Natürlich wollten sie wissen: Wann bekommst du denn nun deine Leber? Da ist es nicht leicht, immer wieder nur antworten zu können: Es dauert noch. Ich weiß es nicht.“
Bei der Entscheidung, ob jemand seine Organe zur Verfügung stellt, kann er die Ängste verstehen: „Man stirbt und dann wird man ausgeweidet. Da wird alles rausgeholt – möchtest du das? Oder die Hirntod-Geschichte: Ohne Maschinen ist dann nichts mehr zu machen, sagen die einen. Doch, da bekommt man noch ´was mit, sagen die anderen. Wie soll man sich da entscheiden?“
Eine Frage, die auch in ihm aufstieg, war die nach „seinem“ Spender: Von wem würde das Organ stammen? „Vielleicht von einem, der genauso alt ist wie ich, auch eine Familie hat, die darunter leidet, dass er aus dem Leben geschieden ist? Der Trauer hinterlässt, vielleicht sogar Verzweiflung? Das hat mich schon sehr beschäftigt.“ Sprüche wie „Ach, wieder ein potenzieller Organspender unterwegs“, wenn ein Motorradfahrer riskant überholt, tun Patrick Wetzel weh. „Ich empfinde, dass ein Organ ein Geschenk von jemandem persönlich ist, die Möglichkeit, etwas von sich zu verschenken, über seinen Tod hinaus.“
Schon mehr als ein Jahr war ins Land gegangen. Körperlich fühlte sich Patrick Wetzel nicht fit. Er beantragte eine Kur. Er wollte sie auch nutzen, um in Ruhe über seine Patientenverfügung nachzudenken. „Man muss sich auf das Schlimmste vorbereiten.“
Die Kur wurde genehmigt. Drei Tage bevor sie losgehen sollte, kam der Anruf, es gäbe ein passendes Organ. „Ich habe es abgesagt, schweren Herzens. Psychisch wie körperlich hätte ich die Belastung nicht verkraftet. Aber ich habe gedacht: Hoffentlich hast du keinen Fehler gemacht, dass das deine große Chance war und jetzt kommt nichts mehr.“
Kaum zwei Tage aus der Kur zurück, wird Patrick Wetzel wieder angerufen: Es ist ein Organ da, kommen Sie in die Klinik! Innerhalb so kurzer Zeit eine neue Chance, das hatte er nicht erwartet: „Ein Wink Gottes, als wollte er sagen: Ich lass dich nicht hängen! Und ich war bereit, war ganz ruhig.“ Routinemäßig wurde Patrick Wetzel noch einmal medizinisch von oben bis unten durchgecheckt. „Leider, muss ich sagen. Denn da war ein unklarer Befund in der Lunge, und die Prozedur wurde abgebrochen.“ Der Lebertumor hatte gestreut, Metastasen. Für die Transplantation hätte die körpereigene Immunabwehr unterdrückt werden müssen; womit sich die Krebszellen ungehindert ausbreiten könnten. Damit war die Transplantation erstmal gestorben, und ein Stück Hoffnung auch.
Was Patrick Wetzel schon während der ganzen Zeit getragen hatte, war sein Glaube. Jetzt ganz besonders. Er ließ sich die Krankensalbung spenden: „Es war einfach schön, dieses Angebot der Kirche zu nutzen. Und hat mir gezeigt, dass mein Ziel in Gott ist, dass ich es nicht verpassen darf. Bei Ihm kann ich meine Urangst ablegen; Er ist die Adresse, an die ich meine Angst vor dem Tod schicken kann.“
Dass er seine Situation annehmen konnte und auch von der Gemeinschaft mit Freunden und der Familie getragen war, dafür empfand Patrick Wetzel vor allem nach Begegnungen mit Leidensgenossen eine besondere Dankbarkeit: „Es gibt viel Verzweiflung und Einsamkeit, Hilflosigkeit bis hin zu Aggressionen gegen den Schöpfer. Ich habe versucht, dann einfach zuzuhören, einfach da zu sein. Ohne Kumpanei. Mir schien, es nützt nichts, viel zu sagen. Aber den Schmerz zu teilen, so mein Eindruck, das bringt uns auf eine andere Ebene. Die Beziehung wächst, bekommt eine neue Qualität.“
Seine Organe spenden? Wozu rät Patrick Wetzel heute?
“Appelle reichen nicht. Die Menschen brauchen Sicherheiten, um die Ängste überwinden zu können. Das heißt, mehr Aufklärung, was medizinisch passiert, wie die Abläufe bei einer Transplantation sind. Natürlich soll dann jeder für sich entscheiden können.“
Zur Auseinandersetzung mit dem Thema empfiehlt er einen Dokumentarfilm 1) über einen palästinensischen Vater. Nachdem sein zwölfjähriger Sohn von einem israelischen Soldaten erschossen wird, gibt er die Organe frei, damit andere Kinder leben können, auch israelische.
Die Chemotherapien machen Patrick Wetzel nach wie vor zu schaffen. „Ich bin dann zu nichts zu gebrauchen, kann nicht mit den Kindern spielen, nicht mehr mit ihnen herumtoben.“ Aber er hofft, dass die Metastasen zurückgedrängt werden. Dann könnte er wieder in Leiden auf die Liste kommen.
Clemens Behr
1) Das Herz von Jenin. Deutschland 2008. Regie: Marcus Vetter, Lior Geller
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2013)
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