13. Juni 2013

Vom Bauunternehmen zur Kreativwerkstatt

Von nst1

Die wirtschaftlichen Umbrüche führen in Herten wie in anderen „Ruhrpott“-Städten zu großen sozialen Problemen. Der Caritasverband versucht mit immer neuen und überraschenden Initiativen den Bürgern Mut zu machen. Eine davon ist das „Atelier Franz Hahn“.

Im offenen Innenhof der Herner Straße 56-58 ist an diesem 26. April kurz vor 11 Uhr schon mächtig was los: Kriemhild Schmülling, Jahrgang 1946, die Initiatorin des Ateliers, das damals noch Regenbogen hieß und sich in der Hedwigschule befand, soll nach mehr als dreißig Jahren zusammen mit ihrem Mann bei einem Fest verabschiedet werden. Stehtische mit leuchtend orangenen Tischdecken und Blümchen sind aufgebaut; irgendwoher kommt Musik.
Überall auf dem Hof gibt es etwas zu bestaunen: fantasievolle Popart-Bäume, bemalte Decken, Balken; in der Ecke sitzt ein fast lebensgroßer Kumpel mit Schippe; das Feierabend-Paar auf der blauen Bank mit Margeritentopf findet seine Fortsetzung in der langen Reihe von realen Gestalten, die warten, dass es endlich losgeht. Der kräftige Baum, bunt umhäkelt, hat vor etlicher Zeit eine Rundbank bekommen; sie hat schon ein wenig Moos angesetzt. Vor einer Eingangstür prangt links das Signet vom „Atelier Regenbogen“, rechts ein Porträt von Franz Hahn mit dem neuen Namen der Werkstatt.
Kriemhild Schmüllings Anliegen war es, Menschen, die auf Sozialhilfe angewiesen sind, Aussiedlern und Flüchtlingen durch gemeinsames Arbeiten in einer multikulturellen Gruppe neue Perspektiven und bessere Chancen zu geben. Soziales Lernen von Männern und Frauen unterschiedlichen Alters, verschiedenster Herkunft und Religion bei kreativer Tätigkeit, das kann allen guttun, ein positives Selbstwertgefühl aufzubauen. Und das Atelier sollte das ermöglichen.
Heute ist der Hauptwerkstattraum Festsaal: Links auf der Werkbank für die Holzbearbeitung steht allerlei Material bereit, rechts sind auf einem großen Tisch fertige Holzlokomotiven ausgebreitet, mit deren Verkauf sich das Projekt zum Teil finanziert. Im Nebenraum ist das Buffet aufgebaut, aber los geht es erst, als Bürgermeister Uli Paetzel eingetroffen ist – und der 41-Jährige ist superpünktlich.

„Ein Netzwerk ist, wenn alle mitmachen“, sagt der Politiker, der den vielfältigen Initiativen der Caritas in der 60 000 Einwohner-Stadt sehr verbunden ist.
Die richten sich vom Publikumsrenner des sozialkritischen Stadtkabaretts „Jetz ma ehrlich“ über spezifische Unternehmungen für die verschiedenen Altersgruppen, Familien und Senioren – eines davon sind tägliche „Lichtpunkte“ für Demente – an Alteingesessene und Hinzugezogene, Migranten und Flüchtlinge. In Matthias Müller, dem Leiter der Caritas Herten,  schätzt Paetzel an einer wichtigen Schaltstelle einen geborenen Netzwerker mit hohem Empathievermögen, dem die Ideen nie ausgehen.
Zum Fest sind alle gekommen, die Mitarbeiter des Jobcenters, der Diakonie, der psychosozialen Einrichtungen, Schwester Daniela, zuständig für die Caritas-Läden, anderswo Tafeln genannt. Und dann läuft das Fest: mit den Festreden für die ausscheidende „Erfinderin“ des kreativen Ateliers und ihren Nachfolger Karl-Heinz Feindert („Fine“), einen Hertener Sozialarbeiter, der nach Jahren im Dortmunder „Ausland“ ihr Werk als pädagogischer Leiter weiterführen wird.
In den 60er-Jahren hatte Hermann Schäfers (1942 – 1990), Sozialarbeiter, später auch Diakon, als Geschäftsführer der Caritas mit Charisma vieles initiiert, das aus seiner  unmittelbaren Begegnung mit Menschen in Notlagen aller Art herrührte. Er hatte keine Berührungsängste, gleich, ob es um Obdachlose, ältere Menschen in sozialer Isolation oder wen auch immer ging.

„Wenn keiner zuständig ist, dann bin ich zuständig“, war er überzeugt. Seine unbürokratische Arbeit orientierte sich am Evangelium und befähigte ihn zu Ideen mit hoher Innovationskraft, für die er zu begeistern wusste.
Davon ließ sich wohl auch Feindert anstecken, als er hier Zivildienst leistete. Den Menschen ihre Würde wiedergeben wollte Hermann Schäfers. Mit diesem Ziel entstand 2004 die „Hermann-Schäfers-Stiftung“, deren aktuell 333 Mitglieder über eine halbe Million Euro Stiftungskapital zusammengebracht haben, das ein siebenköpfiges Kuratorium verwaltet.
Ein Kuratoriumsmitglied der ersten Stunde ist Ulla Frauenkron, 63. Als ihre Familie 1960 von Herten-Mitte nach Herten-Süd umzog, war das für die damals Elfjährige nicht so prickelnd. Ihr Vater Franz Hahn baute hier Wohnhaus und 1963 das Werkstattgebäude für sein Bauunternehmen. „Mein Vater hat gelebt für die Werkstatt“, erzählt sie. Als Bauunternehmer war er „pingelig“, verlangte Genauigkeit und gute Arbeit, ließ sich auch nicht einschüchtern von den Worten des Großvaters, das alles könne nichts werden. Der mittelständische Betrieb wuchs, gab  dreißig Mitarbeitern – manchmal weit mehr – Arbeit und Brot. Oft spielte die Zeche Ewald, mit deren Schließung im Jahr 2001 ein großes Stück Identifikation der Bürger verloren ging, bei der Auftragslage eine Rolle.

Wo heute Caritaschef  Matthias Müller sein Büro hat, war Ulla Frauenkrons elterliche Wohnung: „Hier bin ich groß geworden.“ Wehmütige Erinnerung schwingt mit, mehr aber Freude und Stolz über das, was daraus geworden ist. Ihre Mutter, Maria Hahn, erlebte die Anfänge der Umgestaltung noch in ihrem Haus mit. Mit dem Porträt ihres Mannes im Hof war sie nicht ganz zufrieden, „aber die haben ihn ja auch nicht gekannt“. Dass sich beide Elternteile über die jetzige Nutzung freuen, ist sie sich sicher.
In den Produkten, die in der Werkstatt entstehen, zeichnen sich auch die Entwicklung der Zeit und die Möglichkeiten der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter ab: Die Kunstobjekte, möglichst ohne Maschinen hergestellt, waren zunächst große bemalte Figuren aus Pappmaschee, die an Einkaufszentren und vielen anderen Stellen der Stadt Aufmerksamkeit erregen und für ein Mitwirken am Gemeinwohl werben. Irgendwann wurde dann Holz das bevorzugte Material: Holzfiguren mit der Säge auszuschneiden und zu bemalen, verlangt Konzentration, Ausdauer und Präzision, erlaubt gleichzeitig aber auch soziales Lernen, Sprachfortschritte, Entdeckung neuer Fähigkeiten. Das Wichtigste dabei ist die aufmunternde liebevolle Zuwendung der Mitarbeiter.
Die neueste „Erfindung“ ist eine über zwei Meter hohe Holzfigur. Im Laufe der Feier wird der lustige Holzwurm „Marie“ enthüllt; im neuen Stadtteil-Märchenprojekt hat diese erste Märchenfigur, die im gegenüberliegenden Katzenbusch-Park zuhause ist, auch schon einen Partner: den Holzwurm „Adorno“ für den Schreibtisch des Bürgermeisters. Es gibt sie bereits in unterschiedlichen Größen, als Dekoration und Geschenk für viele Gelegenheiten.
Neue Projekte sind geplant: die Pflege des gegenüberliegenden Spielplatzes und die Betreuung der Baumscheiben auf der Herner Straße, für die die Stadt keine Mittel hat. Die Teilnehmer sollen dieses Stück Herten als ihr eigenes erleben.
Das Regenbogen-Atelier hat Platz für 25 Teilnehmer mit komplexem Hilfebedarf  im Alter von 25 bis 55 Jahren. Mit ihrem niederschwelligen Angebot will die „Werkstatt für Arbeitserprobung und Persönlichkeitsentwicklung“ (so die offizielle Beschreibung des Ateliers Franz Hahn) Menschen, die schon lange arbeitslos oder in soziale Schieflage geraten sind, den Weg in eine sinnvolle Lebensgestaltung ebnen. Kreative Tätigkeiten erweisen sich dabei als besonders geeignet. Der Tagesablauf ist wie die Werkstatt klar nach Arbeitsabläufen strukturiert, vom Beginn um halb acht mit gemeinsamem Frühstück, Tagesplanung und Arbeit bis zum Mittagessen. Er schließt mit einer Nachbesprechung und der Vorbesprechung des folgenden Tages. Der Nachmittag dient den individuellen Fördermaßnahmen der Teilnehmer aus oft zwanzig Nationalitäten, der Begleitung zu therapeutischen Einrichtungen oder gemeinsamen Angeboten zur Erweiterung ihrer Kenntnisse.
Die Verweildauer im Projekt wird von den beteiligten staatlichen Stellen auf ein halbes Jahr begrenzt. Die Mitarbeiter sehen, dass diese Zeit zum Erreichen einer „stabilen Seitenlage“ (Herr Schmülling in seiner gereimten humorigen Beschreibung) zu kurz ist. Oberster Grundsatz für alle: Niemanden aufgeben, auch wenn am Ende wieder ein Scheitern steht.

„Gebt den Menschen Würde“, beschwor die scheidende Leiterin des Ateliers alle für die Zukunft. Damit ist sie ganz dicht beim Motto von Hermann Schäfers und der Hertener Caritas: „Keiner lebt für sich allein.“
Einen Wunsch gibt „Fine“ allen Besuchern noch mit auf den Weg: „Schaut doch mal, was ihr im Keller an alten Geräten wie Nähmaschinen, Bügeleisen und so weiter übrig habt…“ Und solange man in Herten immer neu mit Fantasie auf das Miteinander und die soziale Verantwortung setzt, kann das Atelier weiterhin Hoffnung verbreiten und die Stadt beleben.
Dietlinde Assmus

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Juni 2013)
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