Wozu Rituale?
Kaum eine Zeit ist so reich an Ritualen wie Herbst und Winter. Warum das so ist, wieso Rituale zum Menschsein dazugehören und wozu wir sie brauchen, das erklärt Axel Michaels aus Heidelberg. Über elf Jahre leitete er dort an der Universität den Sonderforschungsbereich „Ritualdynamik“ und erforschte das Thema nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Kulturen.
Herr Michaels, diese Monate sind mit Erntedank, Halloween, Totengedenken, Advent und Weihnachten voller Rituale. Wieso haben die jetzt Hochkonjunktur?
MICHAELS: Bei solchen Ereignissen handelt es sich um jahreszyklische Rituale, und die haben bei Wechseln eine Hochkonjunktur. Die Tage werden kürzer und dunkler, die Ernte ist eingefahren … Solchen Übergängen haftet etwas Bedrohliches an, man sucht sie deshalb mit Ritualen abzusichern.
Rituale geben uns also Sicherheit?
MICHAELS: Sagen wir, Rituale geben uns das Gefühl der Sicherheit. Sie nehmen uns in gewisser Hinsicht Entscheidungen ab. Weil vorgegeben ist, was zu tun ist, muss nicht alles aus der Innerlichkeit herausgeholt werden, und das hat entlastende Funktion. Gleichzeitig ist genau das für Rituale problematisch, weil nicht jeder solche festen Abläufe mag. Deshalb gibt es immer wieder Kritik, und etwa in Bezug auf das bevorstehende Weihnachtsfest wird jedes Jahr neu überlegt, wie es gefeiert werden soll.
Ab wann ist etwas ein Ritual, wann Gewohnheit?
MICHAELS: Darüber gibt es keine einheitliche Meinung. Beim Ritual steht für mich das Außergewöhnliche, das nicht Alltägliche, auch das Religiöse im Vordergrund. Diese Faktoren gelten für Gewohnheiten nicht. Sie oder auch Routine rücken nur durch das sich immer Wiederholende in die Nähe des Rituals. Aber das ist nur ein Aspekt.
Und welches sind die anderen?
MICHAELS: Diese Wiederholbarkeit hat mit der Formalität zu tun, also damit, dass etwas bestimmten Abläufen folgt und dadurch nachahmbar wird. Hinzu kommt, dass Rituale über die Alltäglichkeit hinausweisen, uns aus dem Alltag herausheben; dass sie gerahmt sind, und dass das, was gemacht wird, von vornherein feststeht.
Routine kann man durch anderes Verhalten ersetzen oder variieren. Das Gassigehen mit dem Hund kann vor oder nach der Tagesschau geschehen und von jemand anderem übernommen werden. Trotz aller Regelung und Wiederholung gibt es da eine gewisse Flexibilität. Während es mit gewissen Sanktionen verbunden ist, wenn Rituale, zumindest religiöse oder religiös angehauchte, nicht genauso ausgeübt werden, wie es vorgeschrieben ist.
Wird über Rituale die Zughörigkeit zu einer bestimmten Gruppe beschrieben?
MICHAELS: Rituale sind immer Gruppenverhalten. Es gibt keine Privatrituale. Etwas Einmaliges oder Spontanes wäre kein Ritual. Deswegen ist die soziale Gruppierung Bedingung für das Ritual; mehrere Personen kommen dafür zusammen und müssen sich darauf verständigen.
Warum gibt es gerade im religiösen Bereich so viele Rituale?
MICHAELS: Das hängt damit zusammen, dass das Religiöse über den reinen Alltag hinausreicht. Dabei muss es gar nicht immer um eine im landläufigen Verständnis religiöse Welt gehen, also um einen Gott oder auch mehrere Götter. Die Ruderregatta zwischen Oxford und Cambridge ist ein solches Ereignis: Da geht es nicht nur um den reinen Wettbewerb, sondern auch um die lange Tradition zwischen den beiden Universitäten und sehr viel mehr, und genau dieser überhöhende Aspekt macht daraus ein Ritual und nicht nur einen einfachen Wettkampf. Oder die Feier des Geburtstags: Die Magie der Zahl lässt einen den 70. Geburtstag völlig anders feiern als den 69., obwohl das doch in gewisser Hinsicht ganz willkürlich ist.
Verändern sich Rituale?
MICHAELS: Rituale verändern sich permanent. Kein Ritual ist so, wie das vorher aufgeführte, weil Menschen daran beteiligt sind und weil die Situation sich verändert. Zugleich haftet Ritualen der Anspruch an, dass sich nichts daran verändern darf – wie beim „Dinner for one“: „The same procedure as every year“ 1).
Aber ein Ritual wird auch an dem festen Ablauf erkannt.
MICHAELS: Das muss auch so sein, gleichwohl verändert es sich auf eine subversive Art und Weise ständig. Nehmen Sie das Weihnachtsfest, wie es heute gefeiert wird und wie es vor 50 Jahren gefeiert wurde. Da haben ganz erhebliche Veränderungen stattgefunden: Der Kirchgang entfällt, die Plätzchen werden gekauft und nicht mehr selbst gebacken. Trotzdem ist das Ritual geblieben: Weihnachten wird an einem bestimmten Tag gefeiert, mit einem Tannenbaum, die Familie trifft sich, man gibt einander Geschenke. Das ist typisch – sagen wir – nordeuropäisch, denn den Tannenbaum gibt es nicht in anderen Ländern.
Aber Rituale gibt es in jeder Kultur?
MICHAELS: Etwas anderes wäre kaum vorstellbar, denn das Rituelle gehört zum Menschsein. Es ist ganz offenbar eine Art der Kommunikation, der Sozialisation, des Umgangs der Menschen miteinander: Rituale regeln das Miteinander.
Wir hatten nach dem Zweiten Weltkrieg einen ganz starken Anti-Ritualismus und zunächst verschwanden zumindest viele deutsch-nationale Rituale; man lehnte vor allem alle großen und pompösen Staatsrituale ab. Die 68er-Generation hat dann sogar noch dazu beigetragen, auch die akademischen Rituale weitgehend zu versenken. Dennoch: Es haben sich wieder Rituale gebildet, selbst die 68er hatten ihre.
Wo immer Menschen miteinander zu tun haben, definieren sie sich in ihrer sozialen Gruppe über Rituale. Sogar Straßenfeste – also eine relativ junge Erscheinung – folgen überall sehr ähnlichen Abläufen, und man definiert sich damit als Nachbarschaft. Und wie könnte man das in einer Gruppe, die sonst kaum miteinander zu tun hat, auch besser hinbekommen als durch solche außeralltäglichen Ereignisse, bei denen die Menschen trotzdem wissen, was sie zu tun haben?
Wissen, was man zu tun hat. Greifen Rituale deshalb in Krisensituationen?
MICHAELS: Gerade in Extremsituationen ist man sehr dankbar für einen Halt. Die Gefühle überfordern die Menschen häufig, entweder sie können sie nicht richtig äußern, oder es ist bedrängend für den anderen, wenn sie geäußert werden. Deswegen werden bei Trauerritualen Gefühle ritualisiert, wie das ritualisierte Weinen. So ist klar, wie man sich zu verhalten hat: dass man sich dunkel kleidet, das Beileid ausspricht, am Grab steht. Wichtig ist oft nicht, wie man es macht, sondern dass man es überhaupt macht. Dann kommt natürlich auch die Frage auf: Meint der das wirklich so? – Aber selbst wenn ein Dankeswort einfach mal nur dahergesagt ist, ist das oft immer noch besser, als es gar nicht zu sagen.
Wenn man Rituale aber nicht beachtet, ist man auch schnell außen vor.
MICHAELS: Das stimmt. Wenn man bei jemand eingeladen ist, muss eine Gegeneinladung erfolgen. Wenn die nicht erfolgt, fragt man sich, was da los ist. Es geht also gewiss um Umgangsformen, um gesellschaftliche Normen und darum, sie symbolisch zum Ausdruck zu bringen.
Bei Jugendlichen führt das oft zu Protest.
MICHAELS: Ja, Rituale provozieren gerade Jugendliche, weil diese nach dem Sinn fragen. Wer Kinder hat, weiß das! Zugleich bilden Jugendliche aber eigene Rituale aus, in denen sie sehr stark darauf achten, dass man nicht davon abweicht – in Bezug auf Kleidung, Drogenkonsum oder wie man den Bierkrug zu halten hat. Auch Jugendliche entkommen den Ritualen nicht und brauchen sie offensichtlich.
Noch einmal zu anderen Kulturen. Wie wichtig ist es in unserer globalisierten Welt, sich mit Ritualen anderer Länder auszukennen, um Startschwierigkeiten zu vermeiden?
MICHAELS: Man sollte sich immer im Voraus informieren und andere fragen, wie man sich verhalten, was man anziehen soll. Auf der anderen Seite gibt es überall Ritualspezialisten, die wissen, was zu tun ist, wenn man an einem Ritual beteiligt ist, bei Hochzeiten oder anderem. Man sollte keine Angst haben, die um Rat zu fragen. Oft wissen auch die Menschen der anderen Kultur bei solchen Anlässen nicht, was sie zu tun haben und schon gar nicht, was es bedeutet. Sie bekommen es gesagt. Rituale mit so viel Bedeutung zu belegen und der Anspruch wissen zu müssen, was eigentlich geschieht, ist in anderen Kulturen längst nicht so ausgeprägt wie bei uns.
Man kann sich also einfach einlassen?
MICHAELS: Das kommt auf die Rituale an! Bei negativen Ritualen, die Menschen unter Druck setzen oder sie Gefahren aussetzen, darf und muss man kritisch sein. Aber wenn man keine Bedenken hat, muss man nicht immer ein schlechtes Gewissen haben, wenn man etwas einfach mitmacht. Durch Rituale zeigt man, ob man Mitglied der Gruppe ist oder nicht, und in einer anderen Kultur ist man das nie, wenn man nur zu Besuch ist. So kann man auch nicht rausfallen. Anders ist das, wenn man sich bei einem Ritual des eigenen Kulturkreises daneben benimmt, dann zeigt man, dass man nicht dazugehört. Das wird belächelt oder sogar bestraft. In anderen Kulturen wird man es oft stehen lassen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg
Axel Michaels,
Jahrgang 1949, Indologe und Religionswissenschaftler, ist seit 1996 Professor an der Universität Heidelberg und war dort (bis Juni 2013) elf Jahre Sprecher des interdisziplinären Sonderforschungsbereichs „Ritualdynamik“, der sich ausschließlich mit dem Thema Rituale, deren Veränderungen und ihrer Dynamik befasste. S.u.a.: Christiane Brosius, Axel Michaels und Paula Schrode (Hrsg.), Ritual und Ritualdynamik Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2013.
1) Ein Fernsehkurzfilm aus dem Jahr 1963, der jährlich zu Silvester ausgestrahlt wird, und dadurch fast schon etwas Rituelles hat.
Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2013)
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