16. Dezember 2013

Schmerzhaft Shoppen

Von nst1

Der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch im letzten April hat weltweit Entsetzen ausgelöst. Aufgrund der Empörung über die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen versprachen Bekleidungsunternehmen Verbesserungen. Was hat sich seitdem getan? Worauf beim Kauf von Kleidung achten? Fragen an Christina Schröder von der Organisation Südwind (siehe unten) in Wien.

Die Bilder von der zusammengefallenen Fabrik und der Suche nach Überlebenden haben die Welt schockiert. Hat das die Lage der Näherinnen verändert?
SCHRÖDER: Noch nicht wirklich. Immerhin gibt es erstmals ein rechtlich verbindliches Sicherheitsabkommen für Bangladesch, das später auch einklagbar ist. Es ist schon bahnbrechend, dass diesen „Bangladesh Accord“ mittlerweile 101 Unternehmen unterzeichnet haben. Vor dem Unglück war es nicht möglich, auch nur fünf Unternehmen dazu zu bringen, ein ähnliches Abkommen der „Clean Clothes Kampagne“ zu unterschreiben. Erst Katastrophen wie Rana Plaza oder der Brand in der Fabrik Tazreen im November 2012, die öffentlich Entsetzen und Empörung auslösten, haben die Unternehmen in Zugzwang gebracht. Wie sie das Abkommen umsetzen, werden wir weiter beobachten und einfordern.

Die Sicherheit ist aber nur ein Aspekt.
SCHRÖDER: Richtig. Auf einem anderen Blatt steht, wie es den Textilarbeiterinnen heute geht. Mit Südwind waren wir kürzlich vor Ort. Wir haben Arbeiterinnen getroffen, Hinterbliebene und Opfer der Unglücke. Zur gleichen Zeit trafen sich Unternehmen in Genf, um über die Entschädigung der Opfer zu diskutieren. Denn bisher hat nur der irische Textildiscounter Primark Entschädigungen gezahlt, das einzige von zig Unternehmen, wenn auch nur drei Monatslöhne pro Person.
Wir hatten vor, den Opfern zu sagen: Endlich tut sich was! Aber als wir gesehen haben, wie sie leben, von der Hand in den Mund, zum Teil unter dem Existenzminimum, kam es uns zynisch vor, sie damit trösten zu wollen, dass jetzt jemand darüber redet.
Das Schlimme ist, in Bangladesch liegt der Durchschnittslohn von Textilarbeiterinnen unter der Armutsgrenze: Mit 40 Euro im Monat kann man selbst dort nicht leben, geschweige denn für Notfälle etwas zur Seite legen.

Wie sehen die Arbeitsbedingungen dort aus?
SCHRÖDER: Üblich ist eine Arbeitszeit von 9 bis 17 Uhr. Aber je nach Auftragslage besteht der Zwang, Überstunden zu machen, auch bis 22 oder 23 Uhr. So wird es ein 14-, 15- oder 16-Stunden-Tag, mitunter bis um drei Uhr früh. Von der Auftragsvergabe bis zum Zeitpunkt, wo das Gewand bei uns im Geschäft liegt, dürfen nur 30 bis 50 Tage vergehen, Transport eingeschlossen. Die Überstunden werden zum Teil nicht abgegolten. Die Arbeiterinnen, 16 bis 27 Jahre alt, sind sehr erschöpft. Viel älter sind sie nicht, weil sie das körperlich nicht länger aushalten.

Betrifft das Problem nur Bangladesch?
SCHRÖDER: Bangladesch ist das Extrembeispiel. Dort beträgt der Durchschnittslohn elf Prozent von dem, was zur Existenzsicherung nötig wäre. In Kambodscha, das die zweitniedrigsten Lohnkosten weltweit hat, sind es 21 Prozent. Dann kommen Vietnam, Indien und viel später China. Die meisten Billiglohnländer Asiens sind betroffen.

Wie viel bekommt eine Arbeiterin?
SCHRÖDER: Die Lohnkosten liegen unter einem Prozent des Verkaufspreises. Die Fair Wear Foundation hat errechnet, dass von 29 Euro, die ein T-Shirt kostet, die Arbeiterinnen rund 18 Cent bekommen. Wobei es kaum einen Unterschied macht, ob ein T-Shirt im Laden 15, 30 oder 50 Euro kostet – sie bekommen weniger als ein Prozent des Verkaufspreises. Für 27 Cent mehr Lohn pro T-Shirt könnten zum Beispiel Arbeiterinnen in Indien menschenwürdig leben.

Warum lassen sich die Frauen auf die ausbeuterischen Hungerlöhne ein?
SCHRÖDER: Bangladesch ist eines der ärmsten Länder der Welt. Das Land wird immer kleiner aufgrund von Erosion und dem Anstieg des Meeresspiegels. Viele sehen sich gezwungen, von ihrer Selbstversorger-Landwirtschaft wegzukommen und Familienmitglieder in die Stadt zu schicken. Die Hauptstadt Dhaka hat 15 oder 16 Millionen Einwohner und täglich strömen Hunderte, Tausende dorthin auf der Suche nach Arbeit. Für ungebildete Frauen sind Textilfabriken so ziemlich die einzig mögliche Einnahmequelle. Männer werden Rikschafahrer, das ist auch ein Knochenjob.
Von einem 40-Euro-Einkommen hängen bis zu zehn Familienangehörige ab. Klar, dass die Frauen Angst haben, ihre Rechte einzuklagen oder sich gewerkschaftlich zu organisieren, weil sie es sich nicht leisten können, rausgeschmissen zu werden.

Nähen und schneiden auch Kinder mit?
SCHRÖDER: Schon vor sieben Jahren hingen vor den meisten Fabriktoren Schilder: „No child labour here“ – hier keine Kinderarbeit. Andererseits kommt man kaum in eine Fabrik hinein, um das zu überprüfen. Und wenn, ist das Alter der Näherinnen schwer zu schätzen. Zum Teil wissen sie es selbst nicht; sie haben kaum Schulbildung.
Ausbeuterische Kinderarbeit war der erste große Missstand, der vor 20 Jahren ans Licht kam – damals stand der Sportartikelhersteller „Nike“ am Pranger. Seitdem haben die Unternehmen großes Interesse, dass in den Zulieferfabriken keine Kinder arbeiten.

Was müsste passieren, damit sich die sklaverei-ähnlichen Zustände verbessern?
SCHRÖDER: Es gibt verschiedene Verantwortlichkeiten: zum einen die Fabrikbesitzer in Bangladesch. Damit sie Aufträge bekommen, müssen sie einen möglichst niedrigen Stückpreis angeben und eine möglichst schnelle Lieferzeit. Sie bekommen etwa vier Prozent vom Verkaufspreis – kein großer Profit. Ein großes Problem ist die enge Verbandelung mit der Politik: Zehn Prozent der Parlamentarier sind selbst Fabrikbesitzer, fünfzig Prozent haben Fabrikbesitzer im familiären Umfeld. Dabei hätte gerade die Regierung die Verantwortung, dass ihre Bürger nicht ausgebeutet werden.
Zum anderen sind da die westlichen Unternehmen, die 60 bis 80 Prozent des Profits abschöpfen. Als Auftraggeber können sie bestimmen, wie breit eine Naht ist und wie viele Nähte an einem T-Shirt angebracht werden. Da gibt es strenge Qualitätskontrollen. Unverständlich, warum sie dann nicht auch garantieren können, dass dort genug Feuerlöscher aufgestellt und die Notausgänge nicht verbarrikadiert werden! Da sehen wir einen Großteil der Verantwortung bei denen, die den meisten Profit machen.

Was können wir als Käufer der Ware tun?
SCHRÖDER: Wovon wir abraten, ist ein Boykott: Bekleidung „Made in Bangladesh“ nicht mehr zu kaufen, schadet in erster Linie den Arbeitern, die von dieser Industrie abhängen. Wenn man die Fabriken zusperrt, stehen sie vollends auf der Straße.
Aber die Konsumenten können Druck machen. Wenn das Image auf dem Spiel steht, reagieren die Unternehmen am ehesten; nicht aus Menschenfreundlichkeit, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Genau da ist der Verbraucher wichtig: wenn er nicht nur auf Preis und Qualität achtet, sondern auch auf die Arbeitsbedingungen bei der Herstellung. Dafür gibt es Petitionen wie die der „Clean Clothes Kampagne“: Postkarten, die man im Geschäft lassen kann, wo draufsteht, man kauft zwar gern ein, möchte aber, dass unter menschenwürdigen Bedingungen produziert wird. Wir sollten als politisch aktive Bürger handeln: uns beim Kauf nicht nur bewusst für A oder B entscheiden, sondern auch unsere Stimme erheben.

Produzieren bestimmte Handelsketten oder Marken von sich aus sozialverträgliche Kleidung?
SCHRÖDER: Ganz aus freien Stücken macht das wohl niemand. Ich würde sagen, es gibt schlechte und weniger schlechte Unternehmen. Auf der Webseite der „Clean Clothes Kampagne“ haben wir einen „Firmen Check“, wo wir darstellen, wer was tut in Sachen sozialer Verantwortung. Manche Firmen achten auf ökologisch hergestellte Baumwolle, andere auf die Arbeitsbedingungen. Ich denke, das Gesamtpaket macht es aus. Aber alles machen die Allerwenigsten richtig. Das sind eher kleine Designer-Labels, in Österreich zumindest, die in geringen Mengen produzieren und die ethisch und ökologisch faire Produktion als ihr Alleinstellungsmerkmal pflegen.

Gibt es Gütesiegel ähnlich wie beim fairen Handel?
SCHRÖDER: Ja, verschiedene, die sind auch auf dieser Internetseite zusammengefasst. Im sogenannten „Label Check“ ist für verschiedene Marken beschrieben, welche Standards sie verlangen. Da gibt es stärkere und schwächere wie im Lebensmittelbereich. Für uns ist ausschlaggebend, dass der jeweilige Verhaltenskodex möglichst konkret und weitreichend formuliert ist und wie seine Einhaltung kontrolliert wird. Wenn die Kontrolleure vom Auftraggeber bezahlt werden, wird ihr Bericht eher rosig ausfallen. Bei der Überprüfung der Standards müssen daher lokale Gewerkschaften und Nicht-Regierungs-Organisationen einbezogen werden. Denn die sind unabhängig und wollen kein Geld verdienen, sondern wirklich schauen, ob die Arbeitsbedingungen stimmen oder nicht.

Vielen Dank für das Gespräch!

Clemens Behr

Christina Schröder,
geboren 1981 in Linz, hat in Wien Spanisch, Portugiesisch und Internationale Entwicklung studiert. Nach Aufenthalten in Argentinien, Brasilien und Ecuador arbeitete sie ab 2006 bei der österreichischen Südwind Agentur vor allem im Kampagnenbereich. Seit 2007 ist sie deren Pressesprecherin. Südwind setzt sich weltweit für nachhaltige Entwicklung, Menschenrechte und faire Arbeitsbedingungen ein.

www.suedwind-agentur.at
www.cleanclothes.at
www.cleanclothes.ch
www.saubere-kleidung.de

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2013)
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