16. Dezember 2013

Stimmig statt stimmungsvoll

Von nst1

Keine Zeit ist so voller Erwartungen wie die rund um Weihnachten: Lichterglanz, Weihnachtsmusik und -märkte; stimmungsvoll soll das alles Harmonie und Geborgenheit vermitteln. Trotz – und manchmal auch wegen – der Erwartungen kommt es zu Spannungen. Nicht alles läuft rund, nur weil der Kalender sich dem Jahresende nähert. Und nicht jede Lebenssituation lädt zum Jubeln ein. Wie gehen Menschen damit um? Was ist ihnen wichtig und wie bereiten sie sich auf das Fest vor?

Für den Frieden nie zu alt!
Margrit Gassmann lebt seit 33 Jahren mit ihrem Mann in Lenzburg, einer Kleinstadt im Aargau. Weil sie und weitere elf Hauseigentümer dort eine gemeinsame Tiefgarage besitzen, haben sie schon vor Jahren eine Interessengemeinschaft gegründet. „In den letzten Jahren wechselten zwei Eigentümer“, erzählt Margrit Gassmann. „Eine junge Familie ist neu eingezogen und der Mann, ein geschickter Allrounder, brachte sich bald durch gute und in der Ausführung günstige Ideen ein. Im Gegensatz dazu tendierte der bisherige technische Verwalter immer zu teuren Lösungen.“ Schon seit Jahren hatte das unter den Eigentümern Unbehagen ausgelöst. Im Frühjahr kam es zu einem Eklat: „Bei der Abstimmung über erforderliche Investitionen siegten nicht die Anträge des technischen Verwalters, sondern jene des jungen Neuzuzüglers mit weit günstigeren Vorschlägen. Der technische Verwalter trat unmittelbar von seinem Posten zurück und verließ die Versammlung. Seine zurückgebliebene Frau erklärte, dass ihr Garten für das traditionelle Quartierfest nicht mehr zur Verfügung stehe.“ Streit nach 33 Jahren einvernehmlicher Nachbarschaft? Margrit Gassmann wollte sich damit nicht zufrieden geben und stellte in Aussicht, zu einer gemeinsamen Waldweihnacht einzuladen.

Monate später – Anfang November – entdeckte sie in ihrer Agenda den Eintrag vom Frühjahr: an Waldweihnacht denken! „Mit meinen 75 Jahren kamen mir Bedenken. Aber sofort meldete sich auch eine Stimme in mir: Um zum Frieden beizutragen, bist du nie zu alt!“ Zusammen mit ihrem Mann suchte sie nach einem geeigneten Termin und organisierte Holz für ein warmes Feuer. „Um den Abend gemütlich wie besinnlich zu gestalten, werde ich heißen Tee und Glühwein ausschenken, Liederblätter suchen, Gedichte und eine Weihnachtsgeschichte zum Vorlesen besorgen“, erzählt sie von ihrem „kleinen Beitrag“ für die nachbarschaftlichen Beziehungen, „auf dass es ‚Frohe Weihnachten’ werde!“
Ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Der bisherige Verwalter wird wohl nicht kommen: „Ich werde aber wach bleiben und hoffe, dass die Liebe mit der Zeit neu ansteckend wirkt.“

Auf dem Boden der Alltäglichkeit
Wenn er in der Schule fragt, wann Jesus Geburtstag hat, ist das oft nicht mehr bekannt und manche meinen sogar, dass die Weihnachtserzählung eine Geschichte der Gebrüder Grimm sei. Dabei ist der katholische Pfarrer Wolfgang Schneck im nordschwäbischen Dillingen noch in einem volkskirchlich geprägten Umfeld tätig. Das „zeitgenössische“ Weihnachten beginnt für das Seelsorgerteam (zwei Pfarrer, drei Diakone und zwei Gemeindereferentinnen) schon mit dem 1. Advent. Dann laden Vereine, Gruppen, karitative Organisationen zu ihren Weihnachtsfeiern ein – „und alle wollen, dass der Pfarrer da ist und etwas Schönes sagt.“ Aber statt als Last nimmt Schneck das als Chance, seine „Message rüberzubringen“ und Kontakte zu knüpfen. Im Team überlegen sie, wo sie hingehen müssen und wo sie absagen können, ohne jemanden zu verletzen.

Außerdem bemüht sich der Pfarrer seit Jahren, den Druck zu mindern, der sich zum Heiligen Abend hin leicht aufbaut. „Im Pfarrhaus und unter den Mitarbeitern haben wir schon lange ausgemacht, dass wir uns nichts schenken. Außerdem stellen wir im Pfarrhaus keinen Christbaum auf, die gibt es zu Genüge in den Kirchen – und auch in den Geschäften,“ fügt er augenzwinkernd hinzu. Stattdessen „wollen wir unter uns so leben, dass zutrifft, was Jesus sagt: Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Also so, dass Bethlehem heute bei uns zuhause ist.“
Für die Weihnachtstage fährt das Pastoralteam in Dillingen „zweigleisig“: „Wir sind zunächst für die Menschen da, die etwas für ihr Weihnachtsfeeling tun wollen, und investieren unsere Kraft in stimmungsvolle Gottesdienste und Krippenfeiern. Da muss die Weihnachtsbotschaft sehr klar und einfach sein und den unterschiedlichen Gottesdienstbesuchern gerecht werden.“

Daneben setzt Schneck auch auf „das Andere“ und meint: „die Menschwerdung Gottes vertiefen, was zunächst gar nichts mit Stimmung zu tun hat. Der Geburtstag von Jesus ist ein sehr nüchternes Ereignis in Armut und deutet an, in welch menschliche Tiefe Gott einsteigt, um uns Menschen Würde zu geben.“ Deshalb lädt man in Dillingen im Vorfeld zu mehreren Feiern der Versöhnung ein, zum Nachdenken über das Leben, zum Sinn-Finden … und am Spätnachmittag des Heiligen Abend Leute von der Straße, finanziell schwächer Gestellte, Ältere und Einsame zu einem festlichen Abendessen. „Meist kann man da nicht viel singen oder beten, sie sind das nicht gewohnt. Uns holt es auf den Boden der Alltäglichkeit dieses Abends!“

Alles unter einen Hut
Weihnacht – Fest der Liebe und der Familie! Für Anita (41) und Res (42) Berger mit Jessica (8), Romina (6) und Timon (3 Monate), aus Staufen (Aargau) ist dieses Klischee schwierig. „Zu viele Erwartungen schwingen mit. Jeder bringt seine eigenen mit: vom Baumschmuck bis zum Fondue Chinoise. Seit Beginn unserer Ehe haben wir intensiv über die Art des Weihnachtsfestes diskutiert. Es sollte anders als in unseren Familien sein – besinnlicher und friedlicher“, erzählen sie. Solange sie noch keine Kinder hatten, haben sie meist jemanden eingeladen, der sonst alleine gewesen wäre. Mit der Geburt der Kinder ist das dann „komplizierter“ geworden: Wie bringt man alles unter einen Hut – den besinnlichen Teil, die Weihnachtsgeschichte, gutes Essen, Gottesdienst und Geschenke? „Und ins Bett sollen die Kinder dann auch noch!“

Aktuell hat sich bei ihnen diese Lösung bewährt: „Wir beginnen Heilig Abend schon am Morgen, bestaunen den geschmückten Baum und frühstücken in Ruhe. Dann singen wir Lieder.“ Für die Bescherung bleibt Zeit und, weil sie den ganzen Tag haben, auch zum Spielen und Geschenke-Ausprobieren. Das Weihnachtsessen ist ein verspätetes Mittagessen und die Frühabendmesse meist ein Familiengottesdienst. „Zum Abschluss sitzen wir noch mal um den Baum und erzählen uns eine weihnachtliche Geschichte!“

Und im Knast?
Brigitte H. 1) ist Sozialarbeiterin und betreut auch Projekte in einer Justizvollzugsanstalt. „Im Knast“, sagte sie ohne Zögern, „ist das die schlimmste Zeit des Jahres! Vor allem für die wenigen, die eine positive Kindheitserfahrung mitbringen, kommt da alles hoch.“ An den Feiertagen sind weniger Beamte da. Die Gefangenen werden um 17 Uhr in ihre Zellen weggeschlossen, erst um 7 Uhr wird wieder aufgesperrt. „Und dieses Jahr liegt Weihnachten mitten in der Woche; mit den Wochenenden sind es also fast zwei Wochen Sonderschicht“, macht Brigitte H. deutlich. „Man kann sich vorstellen, wie es in deren Köpfen rattert und die Gefühle hochkochen. Viele sagen, dass die Zeit zwischen 22 und 24 Uhr die schwierigste sei, weil sie sich erinnern, wie’s zuhause ist, was Frau und Kinder machen.“ Und die, die keine gute Kindheit hatten? „Das sind ja die meisten bei uns. Und auch die bauen sich da eine ‚heile Welt’, mit viel Gefühlsduselei.“

Ein besonderes Weihnachtsessen oder Plätzchen gibt es nicht, „weil kein Geld da ist!“ Und höchstens die Seelsorger bringen im Vorfeld einen Gruß in jede Zelle. Insgesamt herrscht eine angespannte Atmosphäre – und erhöhte Gefahr von Selbstmorden, „gerade wegen der starken Gefühle, die die Jungs nicht mitteilen, weil sie sonst als Weichei abgestempelt werden.“
Weil Brigitte H. nur zu den Projekten in den Knast geht, kann sie selbst nur Feuerwehr spielen. Trotzdem versucht sie in den Einzelgesprächen offen zu sein, auf Zwischentöne zu hören und sich selbst immer wieder neu vor Augen zu führen, dass auch die Geburt in Bethlehem keine Gefühlsduselei war und ohne den Tod auf Golgota nur die halbe Wahrheit ist.

Innerlich klarstellen
Helga Preißer ist alleinstehend und  lebt in Freiburg. Ein Patentrezept für Weihnachten hat sie für sich nicht: „Jedes Jahr neu versuche ich hinzuhören, was dran ist – für mich und für andere.“ Manchmal hat sie schon mit Freunden gefeiert, wurde auch von befreundeten Familien zum Heiligen Abend eingeladen. „Das ist eine tolle Geste und sehr lieb gemeint. Aber man bleibt dabei doch immer ein wenig Zuschauer von außen.“ Manchmal hat sie sich auch allein einen schönen Abend gemacht und dann die Christmette besucht. Und manchmal war es ganz leicht, das Alleinsein auszuhalten, andere Male eher schwierig. „Ich hab für mich gemerkt, dass alles möglich ist, wenn ich nur in mir den Frieden habe. Egal ob allein oder mit anderen, muss ich da unter Umständen erst mal in mir etwas klarstellen.“
Gabi Ballweg

1) Name geändert

Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Dezember 2013)
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