27. Januar 2014

Es nicht wahrhaben wollen

Von nst1

Wieso verdrängen wir leicht, was uns Angst macht?

„Wenn du nicht hinschaust, dann sieht’s dich vielleicht auch nicht!“, sagt Hänsel zu Gretel in einem neuen Märchenfilm. Sie hat, hungrig und orientierungslos, im nächtlichen Wald ein verdächtiges Geräusch gehört, das ihr Angst macht, und lässt sich mit dem Vorschlag beruhigen.
Schutzmechanismen haben ihr Gutes und gehören zum psychischen Überleben. Unser Gehirn blendet unablässig vieles aus, um überhaupt denken zu können, und unsere Kultur hat ihre Gewohnheiten: Wer denkt beim Herunterlassen der Jalousien, dass darin das französische Wort für Eifersucht steckt? Diese kluge Einrichtung jedoch beachtet menschliche Grenzen und die Privatsphäre: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!“

Die Tiefenpsychologie kennt den Abwehrmechanismus der Verdrängung: Ein zumeist triebhafter Wunsch und ein Gewissensimpuls liegen im Widerstreit, was zu einem inneren Konflikt ohne Aussicht auf Lösung führt – die Psyche lässt das Thema einfach „vergessen“.
Das Nicht-Wahrhaben ist eine Gratwanderung zwischen Selbstschutz und Selbstschädigung. So fällt die 30-Jährige aus allen Wolken und in eine lange Depression, als ihr Freund sie plötzlich verlässt – wo sie sich doch in einer langen, glücklichen Beziehung wähnt. Bei aller Tragik: Hat sie nicht da oder dort ein Vorzeichen missachtet?
Manchmal tritt anstelle des Wahrhabens das „Falschhaben“, die Lebenslüge, mit allen schmerzvollen Konsequenzen. Bereits Kinder verlernen, etwas zu bemerken und ihren Gefühlen zu trauen, wenn sie sich dadurch die Liebe ihrer selbstbezogenen Eltern sichern können. Später wird daraus vielleicht Scheitern, Insolvenz. Wäre der Erste Weltkrieg vermieden worden, wenn vor 100 Jahren der österreichische Thronfolger die explosive Lage in Sarajewo zur Kenntnis genommen hätte? Selbst nach dem Attentat noch sagte er „Es ist nichts“.
Selbstwahrnehmung und eigenständige Urteilsfähigkeit sind wichtig. Ebenso, dass man 2 + 2 zusammenzählt, gegebenenfalls als Einziger eine andere Meinung vertritt, aber auch an festgefahrenen Überzeugungen nicht um jeden Preis festhält.
Dorothea Oberegelsbacher

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2014)
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