27. Januar 2014

Flucht nach nirgendwo?

Von nst1

Weltweit sind rund 45 Millionen Menschen auf der Flucht. Nur ein Bruchteil von ihnen sucht Asyl in europäischen Ländern. Die aber legen den Flüchtlingen schwere Steine in den Weg. Karl Kopp von der Menschenrechtsorganisation „Pro Asyl“ über Abschottungspolitik und Willkommenskultur.

Deutschland hat das Kontingent zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien von 5 000 auf 10 000 aufgestockt. Ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein?
KOPP: Vielleicht ist es der zweite Tropfen. Schon über zwei Millionen Menschen aus Syrien sind in Nachbarstaaten geflohen. Der kleine Libanon hat 800 000 aufgenommen, die Türkei 530 000. Und die gesamte Europäische Union hat seit Beginn der Unruhen im Frühjahr 2011 etwa 50 000 Asylsuchende aus Syrien verzeichnet. Der Zahlenvergleich zeigt, dass die EU sich weitgehend abschottet.
Daher haben über 10 000 syrische Flüchtlinge den gefährlichen Weg übers Mittelmeer gewählt. Am 3. Oktober sind 266 syrische Flüchtlinge mit Bindungen nach Deutschland und anderswohin ertrunken.
Noch ein Gedanke: Flüchtlinge werden in der Ägäis und an der Landesgrenze Griechenland-Türkei systematisch zurückgewiesen. Sie werden zum Teil zurückgeprügelt, Boote mit kaputten Motoren werden zurückgeschleppt in türkische Gewässer, die Menschen werden einfach ausgesetzt. Das ist zutiefst irritierend!
Wir begrüßen natürlich, dass Deutschland jetzt 10 000 syrische Flüchtlinge aufnehmen will. Aber angesichts der Dimension der Flüchtlingskrise ist das wenig! Zudem läuft die Umsetzung zäh: Von den ersten 5 000 waren im Dezember vielleicht 1 300 gekommen, weil es kompliziert ist, zu bürokratisch zugeht. Da muss etwas passieren, damit es ein Akt der Humanität ist und auch der Solidarität mit dem Libanon!

Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
KOPP: Einige Bundesländer öffnen den erweiterten Familiennachzug. Aber oft scheitert es an den hohen Anforderungen: Die Betreffenden müssen belegen, dass sie den Lebensunterhalt ihrer Lieben, die sie einladen wollen, sichern können, zum Teil die Krankenversicherung gewährleisten. Das führt dazu, dass weiterhin Familienangehörige den gefährlichen Weg über das Mittelmeer nehmen.
Kürzlich hab ich eine junge Frau getroffen aus Syrien, die war in Deutschland aufgewachsen, hatte hier Abitur gemacht. Dann war sie nach Damaskus gegangen, hat geheiratet, zwei Kinder bekommen. Mit dem Bürgerkrieg wurde es eng für die Familie. Dreimal hat sie ein Visum beantragt, jedes Mal wurde es abgelehnt. So ist die Familie per Boot, vollgestopft, nach Italien geflohen, hat eine Woche Überfahrt unter katastrophalen Bedingungen und bei permanentem Erbrechen überstanden. Sie ist jetzt im Asylverfahren und wird hoffentlich einen Schutzstatus kriegen.
Das Beispiel zeigt, wo es hakt. Wenn unsere Reden von Solidarität mehr als Lippenbekenntnisse sind, müssen wir an der Außengrenze Europas die Menschenrechtsstandards einhalten. Wir müssen uns überlegen, wie diese Menschen zu ihren Angehörigen kommen können, und zwar legal und gefahrenfrei. Nur so können wir diese Dramen, das Sterben an den Außengrenzen vermindern. Wir hatten über 20 000 Tote in den letzten zwei Jahrzehnten.

Haben die Politiker, hat unsere Gesellschaft so viel Angst davor, Flüchtlinge aufzunehmen?
KOPP: Wir finden nach den tragischen Fällen um Lampedusa sehr viele gute Debattenbeiträge und Ansätze. Kirchengemeinden, auch zivilgesellschaftliche Gruppen sagen, wir wollen eine andere Flüchtlingspolitik, keine Seefriedhöfe.
Natürlich gibt es auch gehässige Demonstrationen gegen Flüchtlingsunterkünfte, aber wir haben auch eine Unterstützungsbewegung: Immer mehr junge Menschen, die zu dem Asyl-Netzwerk stoßen, die vor Ort menschenwürdige Aufnahmebedingungen schaffen wollen.
In der Politik können wir keinen Richtungswechsel verzeichnen. Sie braucht länger, um sich zu bewegen. Ohne nachhaltigen Druck von unten geht die europäische Gleichgültigkeit weiter.

Unterscheiden sich Deutschland und die EU? Oder wird da die gleiche Politik gemacht?
KOPP: Deutschland hat in den 90er-Jahren stark darauf gedrungen, dass sich die EU abschottet. Heute ist die Entwicklung widersprüchlich. Zum Beispiel bei den Rechten von Kindern im Asylverfahren. Wir haben im Koalitionsvertrag eine Regelung, dass Asylmündigkeit nicht ab 16 Jahren gilt, sondern ab 18. Das ist ein Kinderrechtsstandard, den Deutschland endlich umsetzt. Aber wir haben noch EU-Richtlinien, in die Deutschland den alten Standard als Kann-Bestimmung hineinverhandelt hatte.
Wir haben Schutzsuchende, die in Ungarn inhaftiert wurden, angefeindet wurden, keine Integrationsleistungen bekommen haben, die nun in Deutschland oder anderswo um Aufnahme bitten. Deutschland spielt zwar teilweise auf europäischer Ebene den Hardliner, aber in machen Staaten geht es Flüchtlingen wesentlich schlechter.

Wie sind die Bedingungen: Wer kann Asyl beantragen, wer wird anerkannt?
KOPP: Ob Menschen Flüchtlingsstatus bekommen, wird nach der Genfer Flüchtlingskonvention geprüft. Es können menschenrechtliche Gründe sein, dass jemand nicht abgeschoben wird, humanitäre Gründe, vielleicht ist er zu krank. Aber jeder Mensch, der Schutz sucht, hat Anrecht auf ein faires Verfahren, egal, woher er kommt. Flüchtlinge aus Diktaturen, aus Gebieten, in denen Bürgerkrieg herrscht, Gruppen, die verfolgt werden, können anerkannt werden.
Aber Europa ist ein Flickenteppich: Es kann sein, dass sie mit der gleichen Fluchtgeschichte in Griechenland abgelehnt werden und in Deutschland einen Flüchtlingspass bekommen. Deutschland hat eine sehr hohe Schutzquote bei syrischen Flüchtlingen. Auch Flüchtlinge aus Afghanistan, Eritrea, Somalia haben gute Chancen. Praktisch keinen Schutz bekommen Menschen aus dem Balkan, wenn sie Roma sind.

Wie läuft denn ein Asylverfahren ab?
KOPP: Es gibt in Deutschland bei der Aufnahme ein Verteilungssystem. Jemand beantragt an einem Ort Asyl, wird aber möglicherweise in ein anderes Bundesland in eine große Einrichtung und dann nach einer langen „Erstaufnahmephase“ – das kann 15 Monate dauern! – in eine kommunale Unterkunft geschickt. Das kann hart sein, wenn seine Gemeinschaft, seine Verwandten woanders sind. Dann bekommt er eine Asylanhörung vom Bundesamt und wartet auf das Ergebnis.
Aber bevor er einen Asylantrag stellt, ist die Frage, ob Deutschland überhaupt zuständig ist. Zuständig ist in der Regel das EU-Land der Einreise. Hat jemand in Italien EU-Boden betreten, kann Österreich ihn dorthin abschieben, bevor eine Anhörung über seine Fluchtgründe stattfindet. Deutschland hat in den letzten Jahren knapp 3 000 Flüchtlinge in andere europäische Länder abgeschoben, nach Polen, Ungarn, Malta.
Nehmen wir an, Deutschland hat sich zuständig erklärt und jemand bekommt einen Flüchtlingsstatus. Dann müssen viele immer noch ins Klageverfahren und sich den Schutzstatus vor den Verwaltungsgerichten erst erstreiten.

Wo sehen Sie Verbesserungen für die Situation der Flüchtlinge?
KOPP: Asylsuchende sollen jetzt höhere Leistungen bekommen, in Analogie zu Hartz IV. Die Asylbewerber durften lange nicht arbeiten, demnächst sollen sie schon nach drei Monaten die Chance haben zu arbeiten, allerdings nur, wenn kein Deutscher, kein EU-Bürger und kein privilegierter Ausländer den Job will. Es gibt Verbesserungen in den Fristen und Lockerungen bei der Residenzpflicht.
Wir gehen noch weiter und fordern: Schafft doch Sondergesetze wie das Asylbewerberleistungsgesetz ganz ab, gebt den Leuten eine Krankenversicherung, eine ordentliche Krankenbehandlung statt bloß Zugang zur Notfallmedizin. Viele dieser Menschen werden lange bei uns bleiben. Ihre Kinder sollen Bildung bekommen, sollen nicht ausgegrenzt werden. In einem Lager haben sie nicht mal einen Platz, wo sie Hausaufgaben machen können. Also lasst sie frühzeitig an der Gesellschaft teilhaben. Eine „Willkommenskultur“ zu schaffen bedeutet auch, dass man 30 Jahre Abwehrdenken überwinden muss.

Wenn Asylbewerber in privaten Wohnungen mitten in der Stadt untergebracht werden, stoßen sie oft auf starke Vorbehalte der Nachbarn. Lässt sich dem vorbeugen?
KOPP: Es gibt einige Kommunen, die vorangehen. Leverkusen hat frühzeitig angefangen, auf lokaler Ebene mit Runden Tischen ein Konzept zu entwickeln. Man versucht, schon im Vorhinein möglichst alle Akteure auf kommunaler Ebene mitzunehmen. Das funktioniert sehr gut. Es gibt mehrere Städte, die diesen Weg gehen und gute Erfahrungen machen.
Der Präsident des Hessischen Rechnungshofes hat kürzlich einen Bericht vorgelegt, in dem er klipp und klar sagt, dass es viel teurer ist, Menschen in Großeinheiten unterzubringen. Ich sage, auch Essenspakete sind teurer als die Menschen selbst kochen zu lassen. Es ist eine Art der Abschreckung. Und davon muss man wegkommen. Das ließe sich auch mit unserem humanitären Selbstverständnis besser vereinbaren.

Vielen Dank für das Gespräch!
Clemens Behr

Karl Kopp,
studierter Sozialwissenschaftler, ist Europareferent bei Pro Asyl in Frankfurt am Main. Die Menschenrechtsorganisation setzt sich für den Schutz und die Rechte verfolgter Menschen in Deutschland und Europa ein. Kopp vertritt Pro Asyl im Europäischen Flüchtlingsrat ECRE in Paris (European Council on Refugees and Exiles).

www.proasyl.de

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Januar/Februar 2014)
Ihre Meinung ist uns wichtig, schreiben Sie uns! Anschrift und E-Mail finden Sie unter Kontakt.
(c) Alle Rechte bei Verlag Neue Stadt, München