15. Mai 2014

Übers Pflichtprogramm hinaus

Von nst1

Dass Kirche vor Ort lebendig ist, dafür schlägt das Herz von Bärbel Zägel. Die Marpingerin hat dafür ein eigenes „Konzept“ entwickelt und sogar einen Preis bekommen.

Ein Ehrenamtspreis, steigende Zahlen der Gottesdienstbesucher, lebendige Beziehungen nach allen Seiten – Bärbel Zägel geht der Stoff nicht aus. Im Wohnzimmer des für die ehemalige Bergbauregion typischen Familienhauses in Marpingen (25 Kilometer nördlich von Saarbrücken) sprudelt es in ihrem sympathischen saarländischen Dialekt aus ihr heraus. Seit ihrer Heirat vor 25 Jahren lebt die 48-Jährige hier. In der neuen Umgebung war für sie damals vieles ungewohnt: Nicht zuletzt, dass die evangelische Kirchengemeinde nun nicht mehr direkt im Ort, sondern im zwölf Kilometer entfernten St. Wendel war. Im katholischen Marpingen gab es monatlich zwar einen evangelischen Gottesdienst, „für den die katholische Pfarrei den Raum zur Verfügung stellte“, zu dem aber nur drei bis fünf Leute kamen.

So fuhr Bärbel Zägel sonntags oft in ihren benachbarten Geburtsort zum Gottesdienst und ging unter der Woche manchmal in die katholische Kirche in Marpingen. „Da sprach mich dann ein Ehepaar an“, erinnert sie sich. Mit ihnen entdeckte sie das „Wort des Lebens“ 1) und die Praxis, daraus den Alltag zu gestalten. Durch den monatlichen Austausch darüber wuchsen Beziehungen in den neuen Wohnort – und die gingen über das Alltägliche hinaus. Nach und nach lernte Bärbel Zägel so die Fokolar-Bewegung kennen und nahm an überregionalen Begegnungen teil: „Ich hab’ einen großen Reichtum für mein Leben entdeckt!“ Bei einer wurde ihr klar, dass sie nicht nur über ihre evangelische Gemeindesituation jammern konnte, sondern selbst überlegen musste, was sie tun konnte, damit das Leben aufblühte.

Die Einzelhandelskauffrau fing an, zum Gottesdienst nach St. Wendel zu fahren, und knüpfte Kontakt zu den Gottesdienstbesuchern in Marpingen. Die junge Mutter zweier Söhne erinnerte sich an die Krippenspiele ihrer Kindheit und fragte bei Familien, ob deren Kinder dabei mitmachen wollten. So wuchsen Beziehungen – und der eine oder die andere kam auch zum Gottesdienst.

“Wenn es Dich nicht gäbe, fehlen würdest Du!”

Als die katholische Gemeinde den zur Verfügung gestellten Raum wieder selbst brauchte, ging Bärbel Zägel mit ihrem Pfarrer zur Gemeindeverwaltung und bat um ein neues Asyl. Das gewährte man im neu renovierten Kulturzentrum „Alte Mühle“ und die neue Predigtstätte liegt so im Ortskern und hat sogar einen Flügel. Wie viel „Wasserträgerarbeit“ damit verbunden ist, lässt sich ahnen: die Absprachen wegen des Schlüssels, regelmäßige Ankündigungen in den „Marpinger Nachrichten“, Aushänge, das Herrichten vorher und das Aufräumen hinterher.

„Kirche sein“ vor Ort ist für Bärbel Zägel aber sehr viel mehr als diese konkreten Dienste.

Nach fünf Jahren spürte sie, dass es an der Zeit war, andere einzubeziehen. Aber das Tun sollte unbedingt eine spirituelle Grundlage haben, „nicht wie in einem Verein, wo man die Aufgaben einfach verteilt“. Bei einem Presbytertag ihrer Landeskirche fand sie ein Modell, das passte: „aufgabenorientierte Hauskreise“. Sie lud die Mütter ihrer Krippenspiel-Kinder dazu ein. Zu acht treffen sie sich monatlich; eine bereitet einen Text aus der Hauskreisbibel vor und mit den darin am Rand stehenden Fragen und Kommentaren kommen „auch Ungeübte gut in den Text“. Erst danach geht es ans Konkrete: Wo gibt`s was zu tun? Wer übernimmt die Lesung? Wer holt die Leute aus dem Seniorenheim ab?

Inzwischen kommen in Marpingen 30 bis 50 Besucher zum Gottesdienst; Bärbel Zägel wurde ins Presbyterium 2) gewählt und hat ein engmaschiges Beziehungsnetz aufgebaut. Immer liegen ihr die persönlichen Beziehungen besonders am Herzen. So auch als sie anfing, im Nachbarort Hausbesuche zu machen, wo vorwiegend aus Osteuropa stammende ältere Evangelische leben.

„Da hat man immer ein wenig Herzklopfen und es hilft, den Gemeindebrief in der Hand zu haben!“

Schnell merkte die wache Frau, dass manche Frauen kaum lesen können; wie unpassend erschienen ihr da die Hefte. Beim nächsten Mal hatte sie deshalb ein wenig Obst aus dem Garten dabei oder eine selbst gekochte Marmelade mit einem Spruch aus der Bibel, den sie vorliest und erläutert. Den 92-Jährigen, der beim ersten Mal sofort in den Garten flüchtete, als er hörte, dass sie „von der Kirche“ kommt, erfreute sie nun öfter mit einer Gartenzeitschrift.
Wen wundert’s, dass man ausgerechnet Bärbel Zägel im Herbst 2010 bat, die neue Aufgabe der Ehrenamtsbeauftragten zu übernehmen? Die Synode des Kirchenkreises Saar-Ost hatte im Juni zuvor beschlossen, das Ehrenamt zu stärken, und „im Presbyterium hatte man sofort die tolle Idee, einen Ehrenamtstag zu gestalten“, erzählt Bärbel Zägel. Aber: Wie konnte es auch hier gelingen, Geistliches und Konkretes zu verbinden? Bärbel Zägel griff auf ihr „Konzept“ zurück: „Ich hatte für meine Kontakte immer das Bild einer großen Weintraube vor Augen: Die vielen Beeren sind alle miteinander und mit dem Weinstock verbunden.“ 3)  Jeder Beere hatte sie eine Person zugeordnet, mit der sie in Kontakt gekommen war. Das Bild half ihr, alle im Blick zu behalten.

Dieses „Prinzip“ übernahm sie nun für die Kirchengemeinde und ordnete jede Gruppierung einer Beere zu: wie Gemeindebrief-Austräger, Jugendchor, Diakonie, Frauenhilfe, Kinderchor, Festausschuss, Besuchsdienst, – bei 26 Ortschaften eine echte Herausforderung. Nach und nach ging sie zu einzelnen Vorsitzenden und konnte so die Namen von 230 Ehrenamtlichen erfassen. Weil es ein Tag der Wertschätzung werden sollte, erhielten alle eine persönliche, liebevoll gestaltete Einladung: „Wenn etwas Schönes entstehen soll, geht das immer übers reine Pflichtprogramm hinaus“, ist Bärbel Zägel überzeugt. Und der Erfolg gibt ihr recht: 200 von 230 Eingeladenen kamen zum „Tag des Ehrenamts“. Die riesengroße Traube von Bärbel Zägel schmückte den Kirchenraum beim würdevollen Gottesdienst und führte allen anschaulich die Vielfalt der Gemeinde vor Augen. Ein toller Einstieg für die Ehrenamtsbeauftragte, vor allem weil „die Leute sich so gefreut haben“, aber auch, weil das Fest und das Konzept als Beispiel in einer Sozialstudie des „ISPO Instituts des Saarlandes“ aufgenommen wurden. Auch die anderen 16 Gemeinden des  Kirchenkreises Saar-Ost übernahmen Bärbels Modell und bekamen dafür im letzten Jahr den ersten Ehrenamtspreis des Saarlandes.

Bärbel Zägel freut sich über die Anerkennung, ist sich aber auch bewusst, „dass Wertvolles seinen Preis hat“. Die Tränen, die es manchmal gab, weil sie mit ihrem Einsatz nicht nur Resonanz fand, zählen für sie dazu. „Aber mit ein wenig Abstand konnte ich immer entdecken, dass Gott aus allem etwas gemacht hat.“ Bestärkt durch das Wort, das sie bei der Konfirmation mit auf den Lebensweg bekam („Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich! Denn du bist der Herr, der mir hilft.“) 4) und voller Vertrauen geht sie so nun auch die neue Stelle als diakonische Mitarbeiterin an, die ihr die Chance gibt, „noch näher bei den Menschen zu sein“. Dass Kirche vor Ort lebt, dafür fühlt sie sich persönlich verantwortlich – und dafür hat sie schon wieder jede Menge neue Ideen.
Gabi Ballweg

1) s. S. 18
2) Kirchenvorstand, Leitungsgremium in evangelischen Gemeinden
3) Vgl. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt, der bringt viel Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts tun.“ (Johannes 15,5)
4) Psalm 25

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Mai 2014)
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