22. Oktober 2014

Eine neue Arbeitskultur: Was es für die Zukunft braucht

Von nst1

Wohlstand hängt in Zukunft vom Sozialverhalten ab und wer gut streitet, wird am Markt überleben. Davon ist Zukunftsforscher Erik Händeler überzeugt. Er erklärt, wie sich die Arbeitsstrukturen in der Wissensgesellschaft verändern und wer dafür besonders gerüstet ist.

Herr Händeler, Sie sind überzeugt, dass unser Wohlstand künftig von unserem Sozialverhalten abhängt. Wie kommen Sie darauf?
HÄNDELER: Wir stehen im Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Arbeit ist immer mehr Gedankenarbeit. Die Dinge werden so komplex, dass einer nicht mehr alles überblicken kann. Deshalb sind wir auf das Wissen anderer angewiesen, und die Schnittstellen zwischen den Menschen entscheiden in Zukunft den wirtschaftlichen Wohlstand.
Alles andere ist austauschbar. Sie können überall auf der Welt einen Kredit aufnehmen, jede Maschine und Anlage weltweit ein- oder verkaufen. Was in Zukunft den Unterschied zwischen Ländern, Firmen, Kulturen ausmacht, ist die Fähigkeit, mit Wissen umzugehen. Aber Umgang mit Wissen ist immer Umgang mit Menschen, die ich unterschiedlich gerne mag, unterschiedlich gut kenne und mit denen ich unterschiedlich viele berechtigte Interessensgegensätze habe. Dass sich der Finanz- und der Technikvorstand einer Firma streiten, ist ganz normal. Entscheidend ist, wie sie ihre Fragen aushandeln: vernichtend, konfrontativ, hinten herum oder transparent, so dass die Entscheidung auch ein halbes Jahr später noch nachvollziehbar ist. Das macht den Wettbewerbsunterschied aus.

Geändertes Sozialverhalten meint also nicht weniger Streit und Konflikte?
HÄNDELER: Im Gegenteil. Maschinen haben uns die materielle Arbeit weitestgehend abgenommen. Unsere Hauptarbeit ist jetzt analysieren, planen, entwickeln, entscheiden, organisieren, beraten, Probleme lösen. Dazu muss man Dinge gewichten, um die bessere Lösung ringen und über Ziele streiten: Soll man die knappen Ressourcen hierfür verwenden oder dafür?
Streiten ist ein Großteil der Arbeit in der Wissensgesellschaft. Streit vermeiden ist nur hilfreich, wenn eine destruktive Streitkultur vorhanden ist, weil dann der Schaden größer ist. Wir müssen streiten, aber produktiv, um der Sache willen. Dabei spielt aber auch noch sehr mit, dass man den anderen nicht mag, eifersüchtig ist oder Statuskämpfe austrägt. Trotzdem glaube ich, dass wir schon um einiges besser streiten als vor dreißig Jahren, als das noch nicht nötig war. Da war oben in der Hierarchie der Chef und unten der gehorsame, austauschbare Arbeiter, der die Dinge genau so gemacht hat, wie es ihm gesagt wurde.
In der Wirtschaft der Wissensgesellschaft sind die Dinge nun so komplex, dass die Fachkompetenz von ganz oben in die unterste Hierarchieebene gerutscht ist. Je höher man kommt, desto mehr besteht die Aufgabe darin, Ressourcen zu moderieren, die Mitarbeiter zu fragen, wie es sich bei ihnen auswirkt, wenn so oder anders entschieden wird. In einem guten Unternehmen kehren sich die Informationsströme um – nicht mehr nur von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben. Eine Führungskraft muss sich hinterfragen und auch widersprechen lassen.

Sind wir denn schon so weit?
HÄNDELER: Wir sind immer noch sehr statusorientiert, vor allem im mittleren Management. Aber das ist unproduktiv und wir haben auch schon Unternehmensstrukturen entsprechend verändert. Es gibt nicht mehr wie früher die Entwicklungsabteilung, die Produktion und den Vertrieb, die sich ein Mal im Jahr zur Weihnachtsfeier sehen. Heute trifft man sich im Team: einer, der den Kunden kennt und weiß, was er braucht, einer, der mit der Maschine umgehen kann und ein anderer, der theoretisch entwickeln kann. Aber sie alle sind in der Blütezeit der Industriegesellschaft groß geworden und haben nicht gelernt, partnerschaftlich, sachlich, zielorientiert, auf derselben Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Die neuen Arbeitsstrukturen empfinden sie als anstrengend und aufreibend, weil nicht mehr klar ist, wer das Sagen hat. Und was macht man in einem vermeintlichen Machtvakuum? Man haut dem anderen vorsorglich eine aufs Maul, redet lang und laut, und wer etwas Vernünftiges zu sagen hat, kommt nicht zu Wort. Oder jemand bringt eine Idee ein, hat aber fünf Prozent Unrecht. Weil man nicht möchte, dass der mehr gilt, nagelt man ihn auf die fünf Prozent fest, statt dass man die gute Idee aufnimmt, die alle weiterbringen würde. Da entstehen so große Produktivitätsverluste, dass man sie nicht mehr mit noch schnelleren Maschinen in den Griff bekommen kann.

Was kann man tun, um eine neue Arbeitskultur zu fördern?
HÄNDELER: Ich meine, wir haben nicht deswegen mehr Streit, weil der Mensch böse geworden ist, sondern weil sich die Strukturen verändert haben. Wir haben mehr Schnittstellen als früher und deswegen auch mehr Gründe, uns mit anderen zu streiten. Ich glaube sogar, dass die Menschen besser geworden sind, aber eben nicht um so viel besser, wie wir das in diesen neuen Strukturen bräuchten. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.
Nun gibt es zwei Möglichkeiten der Änderung, entweder durch Einsicht – man macht sich bewusst, welcher Wandel da gerade passiert – oder durch ökonomischen Druck. Wenn klar wird, dass es über das Überleben am Markt entscheidet, wird der ökonomische Druck die Menschen zwingen, effizienter zusammenzuarbeiten. Dann kann man es sich nicht mehr leisten, Führungskämpfe auszufechten.

Dann können wir uns also über ökonomischen Druck freuen?
HÄNDELER: In gewisser Weise. Man muss ihn aber begleiten. Wenn man abwartet, bis er zu groß ist, sind die Menschen lethargisch und haben keine Energie mehr für Veränderungen. Wenn man erklärt, was gerade los ist, warum wir uns wandeln und anders verhalten müssen, mobilisiert man Energien. Man muss eine Vision haben und die Kraft einer Gesellschaft oder einer Firma auf ein Ziel hin ausrichten.

Geht es um eine neue Einstellung?
HÄNDELER: Es geht um eine Universalethik. Wir kommen hingegen aus der Gruppenethik, wo sich der einzelne der Gruppe unterordnet und Mitglieder anderer Gruppen gnadenlos bekämpft werden. Der einzelne gilt nichts, die Gruppe alles. Diese Ethik herrscht weltweit noch zu 80 Prozent vor.
Dann hat man die Würde des Einzelnen unterstrichen und das Individuum immer stärker betont, manchmal sogar bis hin zu einem Überindividualismus. Das war ein notwendiger Entwicklungsschritt. Aber eine Gesellschaft, die dabei stehenbleibt, ist in der Wissensgesellschaft nicht produktiv. Denn im Berufsleben helfe ich mit meinem Wissen Menschen, die mir nicht helfen werden. Umgekehrt werden mir Leute helfen, denen ich es nie wieder vergelten kann. Deswegen brauche ich eine Balance zwischen meinen eigenen berechtigten Interessen, aber auch ein echtes Interesse am Wohlergehen der anderen. Ich muss vom Ganzen her denken, dem Wohl der Kunden und dem der Lieferanten verpflichtet sein. Da ist eine Universalethik gefragt. Und die steckt im Evangelium: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ bedeutet: Es gibt den einzelnen, aber du sollst auch allen anderen Gutes wünschen wie dir selber. Ich konkurriere mit anderen Mitarbeitern um die Position und mit anderen Firmen um die Kunden, aber im fairen Wettbewerb.

Rückt damit das Christliche wieder ins Zentrum? Ist Europa mit seinen christlichen Wurzeln besonders gut gerüstet für die Wissensgesellschaft?
HÄNDELER: Alle Kulturen geraten unter Druck, effizienter mit Wissen umzugehen. Und seit Max Weber 1) wissen wir, dass religiöse Wurzeln und Wertvorstellungen das Handeln prägen, auch die Wirtschaft.
In jeder Kultur gibt es Ansätze von Individualismus und von Gruppenethik, auch in Europa. Aber in unseren geistesgeschichtlichen Wurzeln sind wir vom Christentum geprägt. Was in der Wissensgesellschaft gefragt ist, ist jene innere Einstellung, die das Christentum lehrt. Im nächsten Strukturzyklus 2) geht es um Wahrhaftigkeit statt Manipulation. Ich werde nur dann wieder ein Projekt mit jemandem abwickeln, wenn ich mich darauf verlassen kann, dass er mir die Wahrheit sagt. Wir können es uns nicht leisten, nicht mehr miteinander zu reden, weil wir zerstritten sind. Denn dann fehlt eine Information, die wir gebraucht hätten, um einen großen Kunden zu gewinnen.
Religion war Privatsache. Aber der Rückzug ins Private funktioniert nicht mehr, weil wir überindividuelle Dinge lösen müssen. Da geht es nicht um theologische Fragen, sondern um die Frage, bauen wir die Maschine oder nicht und wer entscheidet das mit welchen Argumenten. Und es geht darum, wie wir diese Prozesse organisieren. Da ist Vergebungsfähigkeit gefragt, Streitkultur, Wertschätzung, Rücksichtnahme. Die machen den Wettbewerbsunterschied aus. Und das ist konkrete Umsetzung des Christentums. Aber ob wir das im öffentlichen Diskurs mit dem Christlichen in Verbindung bringen können, hängt auch davon ab, wie das in der Kirche umgesetzt wird. Denn auch sie ist eingebettet in wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen. Damit sie glaubwürdig ist, müssen wir auch da überlegen, wie die neue Arbeitskultur umgesetzt wird. Wir könnten viel Streit vermeiden und produktiver streiten, wenn wir uns vor Augen führten, dass der Strukturwandel in der Wirtschaft die Kirche genauso betrifft.

Vielen Dank für das Gespräch!
Gabi Ballweg

Erik Händeler
1969, Lenting bei Ingolstadt, ist Wirtschaftswissenschaftler und Journalist. Der Zukunftsforscher ist Spezialist für die Kondratiefftheorie der langen Strukturzyklen und bietet damit einen besonderen Blick auf die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft.
www.erik-haendeler.de
www.neuearbeitskultur.de

1) Max Weber, 1864-1920, gilt als einer der Klassiker der Soziologie.
2) Bezieht sich auf die Konjunkturzyklen nach dem russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai Kondratieff, 1892-1938

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2014)
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