22. Oktober 2014

Es ist „Rauszeit“

Von nst1

Was kann ich allein schon ausrichten? Nützt doch eh nichts! Zu viel Aufwand! Und überhaupt: Wo soll ich denn anfangen? Gründe, sich nicht für mehr Frieden und Umweltschutz, weniger Unterdrückung und Armut einzusetzen, gibt es genug. 80 Jugendliche haben ihre Einwände zuhause gelassen und es eine Woche lang zusammen ausprobiert: Können wir „Weltverbesserer“ sein?

Geschäftiges Treiben in Ottmaring vor den Toren von Augsburg – junge Leute, die Vorhut der 80 erwarteten Jugendlichen, die rund eine Woche hier verbringen werden, dekorieren das Begegnungszentrum um. Gemütlich soll es werden: Sie hängen Tücher an Decken und Wände, schaffen Matratzen herbei und richten eine Chill-Out-Area ein. Im Begegnungssaal zimmern sie schwarze Holzleisten zusammen, die die Seitenkanten eines großen Würfels darstellen. Vielleicht erkennen die Teilnehmer ihn wieder: Er tauchte – zweidimensional – schon als Logo für ihre „Rauszeit“ auf der Einladung auf.

Die meisten der 17- bis 27-Jährigen kommen aus verschiedenen Regionen Deutschlands, aber auch Österreich, Italien, die Slowakei, Ungarn, sogar Brasilien und Taiwan sind vertreten. Zum Teil kennen sie sich wenig oder gar nicht, wollen in den Tagen aber zu einer kleinen Dorfgemeinschaft zusammenwachsen. Um das zu verdeutlichen und zur besseren Orientierung stellen sie Hinweisschilder auf: So entsteht ein „Rathaus“, ein Eiscafé und die „Wunderbar“; der Speisesaal wird zum „Wirtshaus“.

Für eine Woche lassen die Jugendlichen ihre gewohnte Umgebung bewusst hinter sich, gehen raus aus dem Alltag, um sich auf etwas Neues einzulassen. „Rauszeit ist ein Kunstwort, eine Abwandlung vom bekannten Begriff Auszeit“, erklärt Ludger Elfgen aus Augsburg, der die Veranstaltung mit einem Team junger Leute vorbereitet hat. „Manchmal muss man ein bisschen Abstand nehmen, um den Wald wiederzuentdecken, den man vorher vor lauter Bäumen nicht gesehen hat.“ Es gehe nicht allein darum, auszuspannen, neue Leute kennenzulernen und miteinander Spaß zu haben. Das Vorbereitungsteam hat die Messlatte hoch gelegt:

„Unser Ziel ist, Mut zu machen, die Gesellschaft mitzugestalten.

Wir brauchen uns nicht von der allgemeinen Negativstimmung beeindrucken zu lassen, die uns einreden will: Man kann eh nichts ändern, die Macht ist verteilt, als einzelner kann ich keinen Einfluss nehmen. Wir wollten aufzeigen, dass es sehr wohl Möglichkeiten gibt, die Welt mitzugestalten und zu verbessern, und dazu ermutigen.“

Vormittags haben sich die jungen Leute in einzelne gesellschaftliche Bereiche und Fragestellungen vertieft: Sie können mit einer Kinderkrankenschwester über das Tabu-Thema psychische Krankheiten sprechen; einen Unternehmer fragen, ob sich eine Firma so führen lässt, dass das Betriebsklima mehr zählt als der Umsatz; bei einer Expertin für Klimawandel erfahren, wie man die Umwelt schont und weniger Energie verbraucht.
Richard Wezel aus Berlin, der in Freiburg studiert, gefällt besonders das Forum „Governance“, in dem es um Regierungs-, Amts- und Unternehmensführung geht. Dort hört er, wie die Weltbank, das Rote Kreuz oder UNICEF arbeiten. Er erfährt von Politikern, die die Gesellschaft mit ungewöhnlichen Methoden verändert haben: Ein Staatsmann hat das Geld in Fahrradwege anstatt in Autobahnen gesteckt, weil sich die vielen Bedürftigen seines Landes keine Autos leisten konnten. Der ehemalige Bürgermeister von Bogotà, Antanas Mockus, hat Autofahrer mithilfe von Pantomimen dazu gebracht, die Verkehrsregeln zu beachten.
Angelika ist bei einem Forum über Organspende, Patientenverfügung und Sterbehilfe. „Dabei merke ich, wie unterschiedlich die Entscheidung zur Organspende ausfallen kann“, erzählt sie. „Das Wichtigste ist, dass man sich für die Liebe entscheidet. Das kann dann genauso gut eine Option dafür oder dagegen sein.“

Wenn ich die Welt verändern will, sollte ich erst sehen, was mich dabei bremst; also bei mir selbst anfangen. Dazu ermuntert das Forum „Leistung. Druck. Stress. Klarkommen mit subjektiver und objektiver Überforderung.“ Markus aus Paderborn hat sich Planungsstrategien gemerkt: „Aufgaben kategorisieren – was ist dringend, was ist mir wichtig, was bringt mich weiter. Daraus kann ich Prioritäten entwickeln, muss dann aber auch die Konsequenzen ziehen. Also Termine rausstreichen, Ruhepunkte setzen; und beim Eintragen der Termine in den Kalender zur Sicherheit auch zwanzig Prozent mehr Zeit einplanen, um Druck rauszunehmen.“
Nachmittags bekommen die Jugendlichen den Kopf vom Zuhören, Mitdenken und Diskutieren wieder frei: Völkerball, Kampf- und andere Sportarten stehen zur Wahl, die Jugendlichen können im Eiscafé mitarbeiten, einen Videoclip erstellen, malen oder Buchstützen schreinern.

Philipp, 17, hat einen nagelneuen Laptop dabei. Ihm kommt die Idee, darauf einen Gast-Account einzurichten und ihn den Teilnehmern aus anderen Ländern zur Verfügung zu stellen. So können sie über Internet den Kontakt nach Hause pflegen. „Jeder versucht in diesen Tagen, sein Bestes zu geben, gerade in den Kleinigkeiten“, beobachtet Kristóf, 25, aus Ungarn. „Da fehlt jemand beim Spüldienst nach dem Frühstück und gleich läuft ein anderer hin, obwohl er an diesem Tag gar nicht eingeteilt ist. Das, worüber wir gesprochen haben, haben wir auch tatsächlich eingeübt und verwirklicht.“

Und das nicht nur unter den Teilnehmern, sondern auch mit den Bürgern von Augsburg. Am 8. August, dem Tag, an dem Augsburg seit 1650 sein Hohes Friedensfest begeht, zieht das ganze „Rauszeit-Dorf“ in die Stadt. In mehreren Gruppen machen sie sich auf die Jagd nach vier „Farbklecksen“: Vier Personen haben sich in einen roten, grünen, gelben und blauen Zellophan-Anzug gehüllt und treiben sich in der Fußgängerzone herum. Dort legen sie Spuren; die Gruppen müssen die lebenden „Farbkleckse“ finden und fangen.
„Dabei beziehen wir die Augsburger ein“, berichtet Stephan Schmitz, 24, Student in Konstanz. „Wir sprechen sie an, ob sie bunt angezogene Leute gesehen haben, und bitten sie, uns beim Lösen unserer Aufgaben zu helfen.“ Das bedeutet bei diesem Stadtspiel, Daumenabdrücke zu sammeln als Zeichen, dass die „Besitzer“ sich für den Frieden einsetzen wollen; mehrere Personen auf ein Foto zu bekommen; Leuten hinterherzugehen und ihre Spuren mit Kreide auf den Boden zu zeichnen. „Für die Aufgaben bekommen wir Punkte“, erläutert Stephan.

„Das Spiel hat das Motto ‚Jeder hinterlässt Spuren‘ und ist ein Anlass, mit den Passanten darüber ins Gespräch zu kommen.“

Schließlich sind die 80 jungen Leute bei der Friedenstafel auf dem Elias-Holl-Platz hinter dem Rathaus dabei. Als sie an den dort aufgestellten Biertischen sitzen, bieten ihnen wildfremde Augsburger ihre mitgebrachten Salate, selbstgebackenen Brote und Kuchen an. Das gehört zum Hohen Friedensfest dazu. Und auch die Jugendlichen lassen sich nicht lumpen und teilen ihr Picknick mit den Augsburgern.

Zurück in Ottmaring, werden draußen ebenfalls Biertische für den Abend aufgestellt: Die „Rauszeit“-Teilnehmer veranstalten ein „Dorffest“ und haben auch einige Ottmaringer dazu eingeladen. Gemeinsam proben sie einen ungarischen Tanz; ein Gemälde wird amerikanisch versteigert; jemand singt ein selbst geschriebenes Lied; ein „Beatboxer“ produziert Rhythmen mit seinem Mund.
Ein paar Kinder aus Ottmaring wollen den „Rauszeit“-Gästen auch etwas bieten: Sie rufen eine ganze Reihe von ihnen nach vorn und führen zu einer Musik eine Choreographie auf, die diese nachahmen sollen. „In solchen Situationen habe ich oft erlebt, dass einem das peinlich ist oder man sich ganz davor drückt“, kommentiert Philipp. „Hier machen alle mit, Alt und Jung. Da merkt man schon, dass sich im Laufe der Zeit eine besondere Atmosphäre des Miteinanders aufgebaut hat!“

Später bekommen die Jugendlichen mit, dass einer von ihnen aus Ungarn gern an einem Jugendtreffen in seiner Heimat teilnehmen würde, aber nicht genug Geld hat. So sammeln sie untereinander und geben ihm schließlich rund 80 Euro mit.

Die Welt verbessern, das hört sich ehrgeizig, unerreichbar, utopisch an.

Ludger Elfgen wollte vermitteln, „dass es darum geht, für sich einen Bereich zu finden, in dem man sich gerne engagiert. Nicht mit dem Anspruch, ich muss gleich alles ändern, aber dass ich das, was ich ändern kann, auch wirklich in Angriff nehme.“
Kristóf nimmt sich mit, „dass man nicht aufgeben braucht. Man soll sich engagieren, muss aber auf der anderen Seite auch wissen, dass große Veränderungen Zeit und Ausdauer brauchen.“ Was ihm noch Mut macht: Er weiß, mit seinem Ziel, der Welt ein menschlicheres Gesicht zu geben, ist er nicht allein.
Clemens Behr, Philipp Aretz
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2014)
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