23. Oktober 2014

Mehr als nur Kompromisse

Von nst1

Besser streiten lernen, eine Streitkultur entwickeln – was soll das? Was bringen derartige Aufforderungen? Es wird doch wahrlich schon genug gestritten!

Das könnten die ersten Gedanken sein, wenn wir die These des Zukunftsforschers Erik Händeler lesen: Wer gut streiten kann, wird am Markt überleben, meint er im Blick auf unsere immer komplexere Wissensgesellschaft. Aber was ist mit „Streiten“ gemeint?

Drei Wochen lang hat die Generalversammlung der Fokolar-Bewegung in Castelgandolfo getagt: Gut 500 Mitglieder aus aller Welt haben um die inhaltliche Ausrichtung und die programmatischen Schwerpunkte für die nächsten sechs Jahre gerungen. Und sie haben sich in mehreren Wahldurchgängen auf eine neue Präsidentschaft für diesen Zeitraum verständigt. Sie waren nicht gleich selbstverständlich eines Sinnes. Die Erlebnisse dort haben mich darauf gebracht, was „Streiten“ bedeuten kann. Und das ist etwas ganz anderes als ein gegeneinander Kämpfen.

Personen unterschiedlicher Herkunft und Mentalität sollten also Entscheidungen treffen, die Folgen auch für viele andere Menschen haben. Voraussetzung in solchen Fällen ist, dass die nötigen Informationen zur Verfügung stehen, um sich mit ihrer Hilfe in die Themen einarbeiten zu können, die behandelt werden. Dann ist die Bereitschaft gefragt, Gedanken, Erfahrungen, Meinungen und Vorschläge einzubringen, genauso aber auch die Fähigkeit, zuzuhören und die Eingaben der anderen aufzunehmen. Hilfreich ist es in diesem Suchprozess hin zu einer gemeinsamen Entscheidung, feinfühlig die Wahrheit zu benennen, auch wenn sie unbequem ist. Fehler einzugestehen, erfordert Mut und Ehrlichkeit, kann aber Türen und Herzen öffnen. Hier geht es nicht darum, die eigenen Ideen durchzudrücken, sich gegen den anderen zu behaupten oder ihn zu übertreffen, sondern sie als Beitrag anzubieten, ohne sie als allein möglichen Lösungsweg anzusehen. Sich voll und ganz einbringen, aber mit innerer Freiheit und Losgelöstheit, und sich die Beiträge der anderen so weit wie möglich zu eigen machen, das kann mehr als nur Kompromisse hervorbringen, sondern etwas Drittes, völlig Neues, an das vorher möglicherweise noch niemand gedacht hat.

Erik Händeler spricht davon, produktiv zu streiten, um der Sache willen, partnerschaftlich, zielorientiert. Das bedeutet auch, meine Beziehung zu der Person, mit der ich auf der Suche nach einer Lösung uneinig bin, von ihrer Meinung zu dem Sachverhalt zu trennen.

„Streiten“ kann also heißen: sich mit Themen, Ideen, Mitmenschen auseinandersetzen und gemeinsam um eine gute, vielleicht die beste Lösung ringen.

Ich bin froh, dass ich in Castelgandolfo die Gelegenheit hatte, mich in dieser Art Entscheidungsfindung einüben zu können. So wünsche ich mir und Ihnen weitere Übungsfelder – und immer wieder das Erlebnis fruchtbarer, vielleicht sogar völlig überraschender Ergebnisse!

 Ihr

Clemens Behr
(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2014)
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