22. Oktober 2014

Meister der Menschlichkeit

Von nst1

Offener Brief an Thomas Beckmann, Cellist 

Sehr geehrter Herr Beckmann,

wenn ein Konzert wegen des großen Andrangs mit Verspätung beginnt, wenn sowohl Punks wie auch klassisch gekleidete Konzertbesucher kommen, wenn das Publikum vor Begeisterung auf die Sitze springt, dann muss Ihre Musik eine außergewöhnliche Anziehungskraft besitzen! Kritiker sind betört vom warmen Klang, der großen Klangfülle, dem unglaublichen Fingerspitzengefühl, schreiben von Ergriffenheit, Tränen der Rührung und unvergesslichen Abenden: Sie beherrschen Ihr Instrument wie kaum ein anderer, gelten als einer der begnadetsten Cellisten weltweit!

Doch so sehr Ihr Herz für die Musik schlägt, so sehr schlägt es auch für Menschen, die auf der Straße gelandet sind. Es begann in der Weihnachtszeit 1993: Ganz in Ihrer Nähe, mitten in der belebten Düsseldorfer Altstadt, erfrieren zwei wohnungslose Frauen. Das lässt Sie nicht kalt: Um andere Obdachlose vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, verteilen Sie Schlafsäcke und Isomatten. Damit nicht genug: Gemeinsam mit der Stadtverwaltung und den Kirchen rufen Sie zu einer Spendenaktion auf. Ist es Ihre christliche Erziehung, vielleicht der schwere Auto-Unfall Ende 1995, der Sie und Ihre Frau dazu bringt, sich noch stärker für Notleidende zu engagieren? Jedenfalls gründen Sie 1996 mit Freunden den Verein „Gemeinsam gegen Kälte“ und verbinden mit diesem Namen nicht nur die frostigen Wintertemperaturen, sondern auch das mangelnde Mitgefühl in unserer Gesellschaft.

Für die Wohnungslosen im Land setzen Sie alles ein, was Ihnen möglich ist! Im Laufe der Jahre haben Sie zahlreiche Benefiztourneen unternommen, dabei mit Ihrem 250 Jahre alten Guadagnini-Cello mit dem bezeichnenden Namen „Il Mendicante“ – der Bettler – über 500 Konzerte gegeben und rund 1,5 Millionen Euro eingespielt. So konnte Ihr Verein deutschlandweit in rund 100 Städten mehr als 300 Projekte unterstützen, darunter mobile Ärzteteams, Wärmestuben und Armenküchen. Doch mit Geld allein ist das Problem der Armut, auch der Altersarmut, nicht zu lösen, sagen Sie. Daher versuchen Sie bei Auftritten und in Interviews beständig, Vorurteile abzubauen und Verständnis für die Notlage anderer zu wecken.

Sie nutzen das Schöne, um auf eine hässliche Seite unserer Welt hinzuweisen – die unmenschlichen Begleiterscheinungen einer auf immer mehr Leistung und Wachstum ausgerichteten Gesellschaft, aus der herausfällt, wer nicht mehr mithalten kann. Sie fordern ein Umdenken, eine ethisch-moralische Revolution Richtung Mitmenschlichkeit und gehen selbst mit gutem Beispiel voran: setzen aufopferungsvoll Ihre Begabung ein, um dem Publikum glückliche Stunden zu bescheren, und gleichzeitig, um gegen die soziale Not zu kämpfen.

Danke, dass Sie so unsere Gesellschaft lebenswerter und menschenfreundlicher machen! Wir wünschen Ihnen, dass die Freude, die Sie anderen vermitteln, auf vielfältige Weise zu Ihnen zurückfindet! Wenn viele Menschen ebenso Ihr Talent in den Dienst anderer stellen würden, hätte unser Miteinander eine größere Leichtigkeit und mehr Herzlichkeit; und ein stärkerer Zusammenhalt wäre die Folge!

Mit freundlichen Grüßen,

Clemens Behr
Redaktion NEUE STADT

www.gemeinsam-gegen-kaelte.de

Unser offener Brief wendet sich an den Cellisten Thomas Beckmann, 57. Der Musiker setzt sich seit Jahren intensiv für wohnungslose Mitmenschen ein. – Mit seiner Frau, der Konzertpianistin Kayoko Matsushita-Beckmann, lebt er in der letzten Wohnung des Komponistenpaares Robert und Clara Schumann.

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, Oktober 2014)
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