14. November 2014

Kreativität und Treue

Von nst1

Das Charisma der Einheit tiefer verstehen und Wege finden, es immer fruchtbarer zu machen: So lässt sich das Bemühen der Fokolar-Bewegung seit dem Tod ihrer Gründerin Chiara Lubich (1920 -2008) beschreiben.  Und das war auch das zentrale Anliegen der Generalversammlung vom 1. bis 28. September in Castelgandolfo. Wertvolle Impulse kamen dafür von Freunden unterschiedlicher christlicher Kirchen, anderer Religionen und nichtreligiöser Weltanschauung und von Papst Franziskus.

Häufig spricht man von „Charisma“, wenn man ein besonderes Talent oder eine natürliche Fähigkeit einer Person kennzeichnen möchte. In christlicher Perspektive ist ein Charisma jedoch mehr als eine persönliche Qualität. Es bezeichnet eine Gabe Gottes für einen Menschen, die dieser nicht deshalb erhält, weil er besser ist als die anderen oder weil er sie sich verdient hat. Er soll diese Gabe vielmehr in den Dienst aller stellen und zum Geschenk werden lassen. Mit der Gabe ist gleichermaßen ein Auftrag verbunden.

Wie kann die Fokolar-Bewegung das „Charisma der Einheit“, das Gott der Gründerin Chiara Lubich geschenkt hat und das nach ihrem Tod auf die gesamte Bewegung übergangen ist, immer fruchtbringender einsetzen, um auf die Fragen und Nöte der Menschen zu antworten? In wenigen Worten könnte man so die Generalversammlung 2014 zusammenfassen: Um diese Fragestellung drehten sich die Überlegungen zu den Wahlen der neuen Leitungsgremien. Darum ging es auch bei den Beratungen im Plenum und in den 32 Gruppen, die sich mit den inhaltlichen Prioritäten der nächsten Jahre beschäftigten. Das „Charisma der Einheit“ unter veränderten Rahmenbedingungen fruchtbar werden zu lassen, war auch Anstoß für eine strukturelle Neuordnung, die die Bewegung weltweit angegangen ist.

Wichtige Impulse erhielten die Delegierten dabei durch den Besuch von Weggefährten und in einer Privataudienz bei Papst Franziskus.

Besuch von Weggefährten

Nach den Wahlen für das neue Zentrum des Werkes (Präsidentin und Kopräsident sowie 30 Beraterinnen und Berater) 2) erhielt die Generalversammlung am 18. September Besuch von Freunden des Netzwerkes „Miteinander für Europa“ 1), von Muslimen, Juden, Buddhisten und Freunden nicht-religiöser Weltanschauung.

In einem bunten Kaleidoskop von persönlichen Zeugnissen unterstrich etwa der Franzose Gérard Testard, früherer Präsident von Fondácio 3): „Ich bin sehr dankbar für das Geschenk der Gemeinschaft, das ihr für euch selbst lebt, das jedoch allen uns zugute kommt.“ Gerhard Pross (CVJM Esslingen und „Treffen von Verantwortlichen“ 4)) war beeindruckt, dass die 500 Delegierten bei den Wahlen die 2/3-Mehrheiten geschafft hatten. „In diesem Prozess ist etwas vom Charisma der Einheit zum Ausdruck gekommen: dem Kommen Jesu unter uns immer neu Raum geben und nicht so sehr dem, was der Einzelne möchte … Es ist euch gelungen, persönliche Interessen beiseitezustellen, um auf das zu hören, was Gott möchte … In die Haut des anderen schlüpfen und das spüren, was der andere spürt, das habe ich von euch gelernt und ich denke, das ist Teil des Charismas, das Chiara euch gegeben hat.“

Buddhisten aus Thailand und von der japanischen Bewegung Rissho-Kosei-kai sowie zwei muslimische Freunde bezeugten, dass der Dialog der Bewegung keine religiösen Grenzen kennt. So berichtete Shahrzad Houshmand, muslimische Theologin aus dem Iran, von ihrer Begegnung mit Chiara Lubich: „Von ihr habe ich die Kraft eines universellen Glaubens gelernt, der die Herzen aller Gläubigen erreicht, auch die der Muslime.“

Eine weitere Charakteristik unterstrich die Jüdin Emily Soloff vom „American Jewish Committee“: „Für mich ist euer Dialog immer ein Dialog des Lebens, der vom Einzelnen ausgeht und mehr auf das Verständnis für den anderen setzt als auf theologische und philosophische Lehrmeinungen.“

„Chiara Lubich hat vom ersten Moment an begriffen“, so Luciana Scalacci, die sich als „nicht religiös verwurzelt“ bezeichnet, „dass man die Einheit nur mit den anderen und nicht gegen sie erreichen kann. Darum hat sie den Teil der Menschheit, der sich nicht zu einem religiösen Glauben bekennt, nicht ausgeschlossen. Sie hat der Überzeugung des anderen denselben Wert beigemessen, wie ihrem eigenen Glauben.“

Die Vielfalt der Zeugnisse hat dem ein oder anderen die Spannweite der Bewegung aufgezeigt: „Heute sind unsere Arme und Herzen weit geworden, wir konnten tief und kräftig durchatmen.“ Überrascht waren viele, dass die Gäste – unabhängig von ihrer eigenen religiösen Verankerung – „uns auf Christus verwiesen haben, als Mitte unseres Glaubens, als Ausgangs- und Zielpunkt unseres Seins und unserer Aktivitäten.“

„In einer Generalversammlung wie der unseren, die fest verbunden mit der Quelle nach vorne schaut, durfte dieser unvergessliche Nachmittag nicht fehlen. Mit euch sind wir mehr wir selbst“, kommentierte am Ende der neu gewählte Kopräsident Jesús Morán.

Privataudienz bei Papst Franziskus

Eine Privataudienz beim Papst erlebt man nicht jeden Tag. Vorfreude, Erwartung und auch ein wenig Nervosität lagen deshalb in der Luft, als sich die Teilnehmer der Generalversammlung am 26. September von Castelgandolfo auf den Weg in den Vatikan und dort über lange Korridore und Treppen hinauf in die „Sala Clementina“ machten. Mit sich brachten sie, wie Präsidentin Maria Voce kurz darauf dem Papst versicherte, die „begeisternde Erfahrung der Gemeinschaft“, die sie in den Wochen zuvor gelebt hatten.

Dankbarkeit, Freude, Zuneigung, Bereitschaft zur Unterstützung, Leidenschaft für die Kirche – das alles machte sich in einem herzlichen Applaus Luft, mit dem die Delegierten Franziskus begrüßten. Die dann folgende Stunde bezeichnete Maria Voce bei einer anschließenden Pressekonferenz als „einen Moment Gottes“, vor allem, weil der Papst ihnen in eindrücklicher Weise bestätigt hat, „dass das Charisma der Einheit eine Gabe des Heiligen Geistes“ ist.

Franziskus verglich die Fokolar-Bewegung mit einem kleinen Samen, der in der katholischen Kirche aufgegangen war und sich dann im Lauf der Jahre zu einem großen, weit verzweigten Baum entwickelt hat. Seine Äste erstreckt dieser Baum heute, so der Papst, über die ganze Welt, sie reichen hinein in viele christliche Kirchen und sogar in andere Religionen und Weltanschauungen.

Und diese Vielfalt spiegelten die Zuhörer ihm wider: aus 137 Ländern, aus verschiedenen christlichen Kirchen, Religionen und einige auch ohne religiöse Weltanschauung, aus unterschiedlichen Altersstufen, Kulturen, Lebenszusammenhängen und Berufungen hatten sie sich, wie Maria Voce dem Papst berichtete, „als das eine Volk des Evangeliums“ entdeckt, „dazu berufen, unser Charisma zu leben, zu bezeugen und es anderen mitzuteilen.“

Damit stieß sie bei Franziskus auf offene Ohren: In der Treue zum Charisma, aus dem sie hervorgegangen ist, stehe die Fokolar-Bewegung vor derselben Aufgabe wie die gesamte Kirche: mit Verantwortung und Kreativität an einer neuen Evangelisierung mitzuwirken. „Die Kreativität ist wichtig!“, unterstrich Franziskus, „Ohne sie geht nichts weiter!“ In diesem Zusammenhang gab der Papst den Fokolaren drei Worte mit auf den Weg: „Betrachten“ – beheimatet sein in Gott und im Schauen auf Sein Wirken, das eigene Herz weitmachen nach dem Maß Jesu. „Hinausgehen“ – wie Jesus aus dem Schoß des Vaters, um uneigennützig allen die Liebe Gottes zu verkünden. Dafür die Kunst des Dialogs erlernen und keine Angst vor hohen Zielen haben. „Schule machen“ – im Sinne des Evangeliums „neue“ Menschen, „Menschen mit Weltdimension“ heranbilden, die fähig sind, die Bedürfnisse, Sorgen und Hoffnungen der Menschen unserer Zeit zu erkennen und zu verstehen.

Schöpferische Treue

Eine weitverzweigte weltweite Bewegung auf die Zukunft ausrichten, ist kein leichtes Unterfangen. Das haben auch die Delegierten der Generalversammlung erfahren. Sie haben diskutiert (auch heftig und kontrovers), zugehört und aufgenommen. Es gab „tiefe und starke Momente, in denen das Wirken des Geistes fast greifbar schien“, wie viele am Ende formulierten. Und es gab Momente, in denen ebenso „erfahrbar war, wie begrenzt und zerbrechlich die Gefäße sind, denen Gott diese Gabe anvertraut hat.“

Und nun? „Mir scheint“, so Kopräsident Jesús Moran zum Abschluss, „dass der Ausdruck ‚schöpferische Treue’ alles zusammenfasst – die Treue zum Charisma, zu den Ursprüngen, aber auch die Kreativität, die notwendig ist, um es immer wieder neu fruchtbar zu machen.“
Gabi Ballweg

1) Internationales Netzwerk von 300 christlichen Bewegungen aus unterschiedlichen Kirchen. www.miteinander-wie-sonst.org
2) s. auch Neue Stadt 10/2014, S. 23-25
3) Franz. Erneuerungsbewegung in der katholischen Kirche. www.fondacio.org
4) Begegnung von 100 Leitern vorwiegend evangelisch-charismatischer Gruppen

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, November 2014)
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