11. März 2015

„Marischa“

Von nst1

Junge Leute in Münster gehen auf Frauen zu, die auf dem Straßenstrich gelandet sind. Sie bieten den Prostituierten Hilfe an, schätzen sie als Menschen wert und durchbrechen die soziale Ausgrenzung.

Beim ersten Mal waren Josef und Elisa 1) schon etwas nervös. Mit einer Kanne Kaffee und einem Päckchen Visitenkarten hatten sie sich auf den Weg gemacht: Die Siemensstraße entlang, wo in Münster nachts die Straßenmädchen auf Kundschaft warten. Josef sollte im Hintergrund bleiben und nur im Notfall eingreifen. Elisa ging auf die Frauen zu, bot Kaffee an, stellte ihre Initiative vor und verteilte die Kärtchen: „Marischa – ehrenamtliches Streetworker-Projekt“ stand drauf, eine Handynummer, eine Mailadresse und in mehreren Sprachen: „Wenn du Fragen hast, ruf uns einfach an.“

Es dauerte nicht lange, da kam eine kleine, kräftige Gestalt auf sie zu, erinnert sich Josef; seine erste Begegnung mit einem Zuhälter. „Mir rutschte das Herz in die Hose. In anderen Städten werden schon mal Messer oder Pistolen gezogen. Zwar vermuteten wir, dass es in Münster nicht so krass zugeht, aber wer konnte das ausschließen? Ich habe ihn direkt angesprochen“, erzählt Josef, der Theologie studiert hat: „Hallo, guten Abend! Möchten Sie auch einen Kaffee?“ Wollte er nicht, nur die Visitenkarten sehen. „Er hat kurz draufgeguckt, sie zurückgegeben und ist so wortlos in der Nacht verschwunden, wie er gekommen war.“ – Das „erste Mal“ ist fast zwei Jahre her.

Etwa 400 Prostituierte bieten in Münster ihre Dienste an, schätzt das Gesundheitsamt der 300 000-Einwohner-Stadt. „Der größte Teil in Clubs, etwa zwanzig auf der Straße“, sagt Anna, die seit einem Jahr bei Marischa mitmacht. Die meisten Prostituierten, mit denen sie zu tun haben, sind aus Bulgarien und zwischen 20 und 30 Jahre alt. Aber es gibt auch ältere, bis über 40. Anna studiert Islamwissenschaft und kann Türkisch. Das verstehen sie fast alle. Damit kann Anna die Frauen bei Behördengängen oder Arztbesuchen begleiten: „Einmal hat mir eine von ihnen einen Zettel hingehalten und gesagt: Hier steht es, schau! Aber sie hielt ihn falsch herum. Da habe ich erst gemerkt, dass die meisten Straßenmädchen gar nicht lesen und schreiben können!“ Die Folge ist, dass sie sich im täglichen Leben nur schwer orientieren können. Anna hilft ihnen, beim Arzt oder bei den Behörden Formulare auszufüllen, und vermittelt Alphabetisierungs- und Deutschkurse. „Wenn eine Frau aufhören will, gehen wir mit ihr zum Jobcenter, damit sie eine andere Arbeit findet.“ Zehn bis fünfzehn Stunden im Monat ist Anna ehrenamtlich unterwegs.

Marischa ist ein slawischer Name für Maria. „Viele Sozialprojekte für Prostituierte sind nach weiblichen Vornamen benannt“, erläutert Josef. Mittlerweile arbeiten rund ein Dutzend Helferinnen und Helfer im Hintergrund mit. Elisa und Josef hatten sich innerhalb einer „Geistlichen Weggemeinschaft“ von Studenten für Obdachlose in Münster engagiert. Elisa war stark beeindruckt von einem Auslandsaufenthalt in Mexiko zurückgekehrt, wo sie Ordensschwestern kennengelernt hatte, die mit Prostituierten zusammenleben und sich um deren Kinder kümmern. „Sie hatte nicht geahnt, dass es auch in Münster einen Straßenstrich gibt, und war total perplex“, erinnert sich Josef.

„Wir sind noch am gleichen Abend die Siemensstraße abgefahren und zehn, zwölf Frauen begegnet, aus dem fahrenden Auto heraus; einige haben uns zugewunken. Auf einmal war Totenstille im Auto: Hier waren wir in einer ganz anderen Welt!“

Bevor Elisa und er Marischa ins Leben riefen, bereiteten sie sich ein Dreivierteljahr lang vor, berichtet Josef: „Wir fanden heraus, dass sich noch niemand um die Straßenmädchen kümmert, waren bei Polizei und Ordnungsamt. Wir haben uns beraten lassen bei professionellen Organisationen, die mit Prostituierten zu tun haben, wie der Mitternachtsmission in Dortmund und der Aidshilfe in Ahaus. Schließlich haben wir mit einer Mitarbeiterin von SOLWODI 2) in Duisburg einen Plan entwickelt, wie wir in Münster auftreten und vorgehen können.“

Bald zu Beginn haben Elisa, Anna und Josef die Straßenmädchen gefragt, was sie gebrauchen könnten. „Da kam sofort: Kondome. So haben wir Kontakt zur Aidshilfe aufgebaut, die uns jetzt Kondome zum Verteilen spendet. Das hat sehr dazu beigetragen, dass die Frauen Vertrauen gefasst haben.“ Das Mitbringsel allein reicht jedoch nicht, um ihr Misstrauen zu überwinden. Josef erzählt von einer Frau, die in einem Wohnwagen lebt: „Sie muss dramatische Erfahrungen gemacht haben, denn sie war sehr distanziert und zurückhaltend. Als wir das erste Mal anklopften, hat sie gleich abwehrend die Hände hochgehalten.“ Beim dritten Besuch nahm sie den angebotenen Kaffee an. Später lud sie die Streetworker in den Wohnwagen ein: „Da hat alles rot geblinkt, lauter Herzchen. Wir saßen auf ihrer roten Matratze und haben nur zugehört. Sie hat die ganze Zeit erzählt. Es war bewegend, wie sie sich schrittweise geöffnet und die Angst vor uns abgelegt hat.“

Bei den ersten Begegnungen bekam der 34-Jährige zu spüren, wie sehr das Männerbild der Frauen von ihrer Arbeit auf der Straße geprägt ist: „Aber auf die Flirtspielchen lasse ich mich nicht ein. Irgendwann merken sie, dass ich andere Interessen als ihre Freier habe und sie persönlich meine.“ Die Leute von Marischa wollen den Frauen, die ausgebeutet und gesellschaftlich an den Rand gestellt werden, zeigen, dass jemand an sie denkt und für sie da ist. „Es ist toll zu sehen, wie sie sich freuen, wenn wir auftauchen. Letztlich sind wir die Beschenkten.“

Manchmal braucht es Monate, bis die Streetworker das Vertrauen der Frauen gewinnen. Dann aber erzählen sie von zerbrochenen Familien, schamlosen Freiern und grober Gewalt: Geschichten, die an die Nieren gehen.

30 bis 50 Euro bekommen die Frauen für eine schnelle Nummer. Warum sie ihre Körper verkaufen? „Die meisten haben Kinder in Bulgarien, für die sie aufkommen müssen“, antwortet Anna. „Sie machen den Job, weil sie hier erstmal keine Sozialleistungen bekommen, obwohl sie arm sind und schwierigen sozialen Verhältnissen entstammen. Einzelne hatten hier Arbeit, haben aber ihren Job verloren und keine Chance gesehen, einen neuen zu finden. Daher halte ich es für gewagt zu sagen, dass sie sich ‚freiwillig‘ prostituieren.“ „Was wir zumindest nicht erkennen können, sind Spuren von Zwangsprostitution“, ergänzt Josef. „Also Gewalt oder Drogen, Alkoholkonsum. Andererseits erleben wir, dass eine Frau plötzlich verschwindet. Dann heißt es, sie sei in Spanien oder Frankreich. Dafür taucht von irgendwoher eine andere auf. Wir vermuten eine Organisation dahinter, die die Frauen über ganz Europa verschickt. Aber das System durchschauen wir nicht mal ansatzweise.“

Die deutsche Regierung will das Prostitutionsgesetz reformieren. Nach der letzten Reform 2002 war die Zwangs- und Elendsprostitution vor allem aus osteuropäischen Ländern stark angestiegen, sodass Deutschland inzwischen den Ruf hat, „Bordell Europas“ zu sein. Das soll sich mit dem neuen Gesetz ändern. „Es gibt aber auch Kräfte, die sich dafür einsetzen, dass Prostitution ein ‚familienfreundlicher Beruf‘ wird“, sagt Josef. „Vielleicht gehen die von Frauen aus, die zu Hause sitzen, sich aus freien Stücken über Internet vermarkten und ihre Freier aussuchen können“, ergänzt Anna. „Aber so ist es bei den wenigsten. An der Realität der Frauen auf der Straße oder in den Bordells gehen diese Forderungen völlig vorbei!“

Marischa bekommt Unterstützung aus der Ärzteschaft. Zunächst hatte nur eine Frauenärztin vom Gesundheitsamt die Prostituierten behandelt. Aber nachdem sie ihre Initiative bei der Ärztekammer vorgestellt hatten, boten zehn weitere Gynäkologen an: „Wenn ihr in Not seid, könnt ihr mit den Frauen zu uns kommen.“ Anna erzählt von Allgemeinmedizinern und Zahnärzten, die sich Behandlungen von mehreren hundert Euro nicht bezahlen lassen, wenn sie erfahren, dass ein ehrenamtliches Sozialprojekt dahintersteht. „Da merken wir: Viele Münsteraner sind sehr hilfsbereit.“

Anna sieht eine Aufgabe des Projekts auch darin, auf das harte Schicksal der Prostituierten aufmerksam zu machen: „Es gibt viele Klischees und Vorurteile. Wenn wir von unserer Arbeit berichten, entspannt sich schnell eine Diskussion.“ Josef und Anna haben bei der Stadt eine halbe Sozialarbeiterstelle für ihr Projekt beantragt. Ihre Vision für die Zukunft: Es auch auf die Bordelle und Clubs ausweiten. „Denn auch da engagiert sich noch niemand für die Rechte und die Würde der Frauen.“
Clemens Behr

1) Josef, Elisa und Anna sind Tarnnamen, die die Mitarbeiter von „Marischa“ aus Sicherheitsgründen im Rahmen des Projekts verwenden.
2) SOLWODI – Solidarity with Women in Distress (Solidarität mit Frauen in Not): von Ordensschwester Lea Ackermann gegründete Menschenrechts- und Hilfsorganisation. www.solwodi.de

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2015)
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