11. März 2015

Wenn das Internet zum Zwang wird

Von nst1

Ständig chatten, Kontakte pflegen oder online spielen – nicht nur Jugendliche verbringen viel Zeit im Netz. Für manchen entwickelt es eine wahre Sogwirkung und immer häufiger ist von Mediensucht die Rede. Ab wann man wirklich abhängig ist und was man dann tun kann, fragen wir den Vorsitzenden des Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V., Andreas Gohlke.

Herr Gohlke, ohne Medien kommt man heute nicht mehr aus. Ist jeder, der viel im Netz unterwegs ist, auch suchtgefährdet?
GOHLKE: Nein! Zeit allein ist kein Faktor, mit dem man Sucht bemessen könnte. Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle, die ineinandergreifen und zur Sucht führen können; wenn Alltagsdinge, Hobbys, Freunde vernachlässigt werden, die Kontrollfähigkeit über Konsumzeit und -menge vermindert ist, eine Art Zwang oder sehr dringendes Bedürfnis zu konsumieren vorliegt und die Nutzung auch dann nicht beendet werden kann, wenn sie negative Konsequenzen hat. Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert ganz genau, ab wann man von einer Sucht reden kann. Unser Fachverband setzt sich dafür ein, dass Medienabhängigkeit als Suchterkrankung anerkannt wird.

Aber warum? Kann man Medien denn mit Drogen und Alkohol vergleichen?
GOHLKE: Durchaus. Die Lebenswirklichkeit vieler Menschen und zahlreiche Studien dokumentieren, dass die Mediennutzung mit bestimmten Konsum- und Verhaltensmustern wie eine Suchterkrankung zu werten ist. Es passieren ähnliche Dinge wie bei Alkohol- oder stoffungebundenen Abhängigkeiten, zum Beispiel der Glücksspielsucht, bei der man auch nichts einnimmt, sondern sich die Sucht über das Verhalten zeigt.

Wie kann man erkennen, ob eine Abhängigkeit vorliegt?
GOHLKE: In Familien sollte man achtsam hinschauen, wenn immer mehr Zeit mit Computerspielen oder in sozialen Netzwerken verbracht wird. Das ist noch kein Suchtverhalten, aber eine Entwicklung, die man im Auge behalten sollte!
Gerade in familiären Bezügen nimmt man wahr, wenn es gelegentlich und dann immer öfter ein bisschen viel wird. Ein Verhalten, das sich von „manchmal“ über „häufiger“ hin zu „sehr regelmäßig“ verändert, deutet in Richtung Suchtentwicklung, vor allem dann, wenn die oben angesprochenen anderen Faktoren auch erkennbar sind. Für eine erste Einschätzung gibt es eine Reihe von Selbsttests im Internet. 1)

Kann man auch bei sich selbst eine Gefährdung erkennen?
GOHLKEIch denke, dass es Erwachsenen in der Regel auffällt. Die eigene Wahrnehmung ist uns allerdings häufig dann genehm, wenn sie mit dem übereinstimmt, was wir vermitteln wollen. Wir neigen dazu, Dinge, von denen wir wissen, dass wir sie nicht tun sollten, schöner zu reden: „So viel ist das ja nicht!“ Oder wir vergleichen uns mit anderen, um zu relativieren.  Das ist menschlich und gleichzeitig hebelt es die Reflexion über das eigene Verhalten aus.

Sind denn alle sozialen Schichten oder Altersstufen gleichermaßen gefährdet?
GOHLKE:  Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt es eine stärkere Nutzung im Bereich sozialer Netzwerke. Das hängt damit zusammen, dass sie Online-Kommunikation anders einsetzen  als ältere Erwachsene, die nicht damit groß geworden und in ihrer Kommunikation anders geprägt sind. Menschen ab Mitte 30 freunden sich mit den sozialen Netzwerken oft nicht mehr so intensiv an und „müssen“ auch nicht ständig ihren Status aktualisieren oder etwas posten.
In den Bereichen Spielen, Surfen oder Sexualität im Internet gibt es keine Unterschiede – da sind durch die Bank alle Altersgruppen betroffen. Zudem sind ältere Erwachsene eine in der Regel zahlungskräftige Klientel und daher von Anbietern sehr umworben.

Kann man präventiv etwas tun?
GOHLKE: Auf jeden Fall. Besonders in der Familie kann man darauf schauen, wer Geräte kauft und wo sie stehen. Wenn Eltern meinen, dass ihr sechsjähriges Kind ein Handy braucht, damit es erreichbar ist, könnten sie sich fragen, ob es ein internetfähiges Smartphone sein muss oder ob ein älteres Modell ausreicht. Sie sollten sich auch bewusst fragen: Brauchen Kinder im Kinderzimmer ein Fernsehgerät, einen Computer, Internet? Gibt es eine Software, die gerade bei Kindern und Jugendlichen steuert, was auf dem Rechner gemacht werden darf? Gibt es Absprachen und wie werden sie eingehalten? Werden Medien als Bestrafung oder Belohnung eingesetzt und damit ihr Wert erhöht?
Eltern sollten sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und ihre Kinder angemessen begleiten – wie beim Lernen von Dingen wie Schwimmen oder Fahrradfahren.
Unsere Kinder bedienen die meisten Geräte intuitiv. Das hat den Vorteil, dass sie keine Bedienungsanleitung brauchen und gleichzeitig den Nachteil, dass man sich nicht über die Folgen im Klaren ist. Wenn man in einem sozialen Netzwerk intuitiv ein Profil einrichtet, liest man nicht, welche Seiten privat bleiben. Dann werden unter Umständen Dinge veröffentlicht, die sich nicht mehr zurücknehmen lassen. Sie könnten Ihr Kind fragen, ob es diese Informationen über sich auch im Supermarkt neben die Kasse hängen würde, wo sie jeder lesen kann.2)
Auch im Arbeitskontext kann man festlegen, wie Internetzugänge geregelt sind: Der Arbeitgeber könnte etwa Zugänge zu Erotikportalen, Wettbüros und Glücksspielseiten generell sperren. Miteinander reden und mit freundlicher Neugierde Fragen stellen hilft oft weiter.

Wenn Abhängigkeit vorliegt, geht man bei Alkohol oder Drogen auf Entzug. Ohne Internet kann man aber heute kaum auskommen.
GOHLKE: Für manche Menschen ist ein selbstbestimmter, kontrollierter Konsum ein erster Versuch, das wieder in den Griff zu bekommen. Für andere geht das gar nicht. Sie brauchen eine Abstinenz, um sich wieder soweit zu regulieren, dass sie Medien zum Beispiel nur für Arbeitskontexte nutzen. Die Hilfsangebote sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie brauchen: Einzel- und Gruppenangebote, ambulante und auch stationäre Angebote. Allerdings haben alle damit zu kämpfen, dass Medienabhängigkeit noch keine anerkannte Diagnose ist und es deshalb im deutschen Gesundheitssystem keinen Kostenträger dafür gibt.
Viele Menschen, die Medien exzessiv  nutzen, haben Persönlichkeitsmerkmale, die als Diagnose klassifiziert werden können. Relativ häufig sind das z. B. das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom und Depressionen. Bisweilen kann man darüber eine Behandlung finanzieren, die entsprechenden Einträge bleiben in den Akten der Kostenträger allerdings über Jahre erhalten und können sich auch nachteilig auswirken.

Ganz oft werden die Medien entweder als positiv oder als gefährlich eingeschätzt. Wie ist ihre Meinung dazu?
GOHLKE: Ich glaube, dass für die meisten Menschen Medienkonsum kein Suchtmittel ist, sondern dass es bei einer Nutzung bleibt, die in manchen Lebensphasen oder -krisen intensiver werden kann, sich aber von selbst wieder reguliert. Schulanforderungen, Beziehungen, der Führerschein oder die Ausbildung sind solche Faktoren für Krisen und Veränderung.
Die Nutzung von Medien ist vor allem dann problematisch, wenn Menschen darüber Anerkennung, Belohnung und  Erfolge erhalten, die sie im „real life“ nicht bekommen. Das verstärkt die Selbstwirksamkeit der Mediennutzung sehr.
Mediennutzung wird noch deutlich zunehmen. Viele Entwicklungen stecken in den Kinderschuhen oder lernen gerade laufen, und die Technisierung unseres Alltags nimmt stetig zu, etwa das vernetzte Heim und Internet im Auto.
Bei aller kritischen Vorsicht ist es legitim, dass die Medienindustrie ihre Möglichkeiten nutzt. Dafür braucht es auch vermehrt Orientierungshilfen. Unser Fachverband arbeitet deshalb daran, „spiel-immanente Faktoren“ zu definieren. Sie erzeugen eine schnelle und hohe Bindung in Netzwerken oder Spielen. Sie sollen in eine Bewertung einfließen, etwa wie bei Altersfreigaben von Filmen. Damit können Nutzer mögliche Gefährdungen erkennen, bevor sie das Produkt kaufen.

Vielen Dank für das Gespräch.
Gabi Ballweg

1) www.ag-spielsucht.charite.de/computerspiel/selbsttest/
www.unimedizin-
mainz.de/psychosomatik/patienten/behandlungsangebote/ambulanz-fuer-spielsucht/selbsttest-computerspiel.html

2) Unter „projekt-escapade.de“ können Eltern Unterstützung bekommen, wenn Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren zu viel Medien nutzen.

Andreas Gohlke,
Jahrgang 1965, hat als Sozialarbeiter 18 Jahre in einer Jugend- und Suchtberatungsstelle gearbeitet. Seit Dezember 2014 ist er an der Uni Mainz in der Ambulanz für Spielsucht beschäftigt und koordiniert die Forschung und Beratung zu pathologischem Glücksspiel in Rheinland-Pfalz.
Er arbeitet freiberuflich in der Erwachsenenbildung, speziell im Bereich „Medienkonsum, Medienbildung und Medienkompetenz“ und entwickelte ein Modulsystem zum selbstbestimmten Medienkonsum, zu dem er Workshops, Seminare und Vorträge für Unternehmen und soziale Einrichtungen anbietet.
Gohlke ist seit 2012 Vorsitzender des 2008 gegründeten „Fachverbandes Medienabhängigkeit e.V.“. Unter www.fv-medienabhaengigkeit.de kann man Hilfe finden.

 

(Erschienen in der gedruckten Neuen Stadt, März 2015)
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